Beim Thema Klimaschutz wäre es ja manchmal wünschenswert, wenn man die Zeit einfach zurückdrehen und ein paar Entscheidungen in der Vergangenheit anders treffen könnte. Zum Beispiel früher den Ausstieg aus fossilen Energieträgern beschließen. In der Schweizer Regierung scheint man ähnlich zu fühlen – aber andere Schlüsse zu ziehen. So verkündete der Bundesrat am Mittwoch, den Neubau von Kernkraftwerken möglich machen zu wollen. Dabei war erst 2017 bei einer Volksabstimmung für den Atomausstieg gestimmt worden.
Die Argumente der Regierung sind jetzt: „Technologieoffenheit“ und die Sicherstellung der Stromversorgung. Außerdem sei Kernkraft ja auch emissionsfrei, wie Albert Rösti, Leiter des zuständigen Departements, betonte. Das lässt sich als kleiner Seitenhieb auf die Klimaschutzdebatten verstehen, die in der Schweiz gerade geführt werden.
Die Schweiz beschloss 2023 ein „Klima- und Innovationsgesetz“. Nur gibt es da Probleme
Da ist zum einen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR): Nach einer Klage der Aktivistengruppe Klimaseniorinnen hatte der EGMR im April geurteilt, die Schweiz verletze Menschenrechte, weil sie nicht genug für den Klimaschutz tue. Stände- und Nationalrat, die beiden Kammern des Schweizer Parlaments, hatten bereits angekündigt, dem Urteil nicht folgen zu wollen. Nun hat sich ebenfalls am Mittwoch auch die Regierung dazu geäußert und sich der Haltung des Parlaments angeschlossen. Begründung: Die Schweiz mache bereits genug für den Klimaschutz. Und tatsächlich hat die Regierung da nicht ganz unrecht.
Während sich die Klimaseniorinnen durch die Instanzen klagten, beschloss die Schweiz 2023 ein „Klima- und Innovationsgesetz“, das die Klimaneutralität des Landes bis 2050 zum Ziel hat. So weit, so gut. Nur gibt es damit auch bereits Probleme. So hat der Bundesrat den Beginn der Umsetzung auf Mitte 2025 verschoben – zu spät, finden manche, und dazu ein falsches Signal. „Dieser Artikel schreibt die Vorbildfunktion fest. Im besten Fall löst er damit einen Dominoeffekt aus“, sagt Oliver Daepp vom Verein Klimaschutz Schweiz. „Wenn der Bund weiß, wie er die Emissionen reduziert, dann können die Kantone viel einfacher nachziehen.“
Die Befürchtung ist, dass sich mit einer Verzögerung des Klimaschutzes auf Bundesebene auch die Umsetzung im Bereich der Kantone und der Industrie verzögert. „Man sieht hier erneut, dass vom Bundesrat eine Depriorisierung des Klimaschutzes stattfindet“, sagt Daepp, der das „hochproblematisch“ findet. Er hat eine Petition gegen die Verzögerung gestartet, mehr als 10 000 haben bereits unterzeichnet.
Ein Kritikpunkt ist, dass die Schweiz bisher kein fundiertes CO₂-Budget ermittelt habe
Stimmt aber überhaupt die Argumentation der Regierung und des Parlaments, die Schweiz habe mit den jüngsten Gesetzen grundsätzlich schon geliefert? Die Behauptung des Bundesrats sei falsch, sagt Cordelia Bähr, Anwältin der Klimaseniorinnen. „Das Urteil ist nicht umgesetzt, und die Menschenrechtsverletzung besteht weiterhin.“ Ein zentraler Kritikpunkt ist aus ihrer Sicht, dass die Schweiz bisher kein wissenschaftlich fundiertes CO₂-Budget ermittelt hat, auf das sich die Klimagesetze des Landes beziehen. Dieses Budget sei notwendig, um Klimaziele und Strategie fortlaufend zu überprüfen.
Das Urteil erwähnt hier ausdrücklich auch das Klimaschutzabkommen von Paris. Um dessen Ziele zu erreichen, müssten die Staaten „die erforderlichen Vorschriften und Maßnahmen einführen, um einen Anstieg der Treibhausgaskonzentration in der Erdatmosphäre und einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf ein Niveau zu verhindern, das schwerwiegende und irreversible Auswirkungen auch auf die Menschenrechte haben könnte“, heißt es dort.
Hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überzogen?
Bereits im Juni hatte Andreas Zünd, der als Schweizer Richter am EGMR selbst an dem Urteil beteiligt war, im Gespräch mit der SZ auf diesen Punkt hingewiesen: Bei der Umsetzung des Urteils werde es nicht den einen historischen Moment geben, in dem feststehe, nun seien alle Vorgaben erfüllt. Die notwendige Reaktion auf den Klimawandel sei ein fortlaufender Prozess. „Deshalb geht es vor allem darum, dass die Länder Monitoring betreiben.“ Also eine wiederkehrende Überprüfung, ob die Klimaschutzziele erreicht sind – und ob diese Ziele überhaupt noch richtig gesetzt sind. Wozu man fraglos ein an den Paris-Vorgaben orientiertes Budget benötigt.
Bleibt die Frage: Hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte überzogen? Betreibt er einen „unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus“, wie ihm der Schweizer Nationalrat vor gut zwei Monaten vorgeworfen hat? Das Urteil des Gerichtshofs vom 9. April, das die Klimaseniorinnen erstritten hatten, ist ohne Frage innovativ. Den Klimaschutz zu einer Frage der Menschenrechte zu machen, liegt zwar durchaus auf der Linie früherer Straßburger Urteile zum Schutz vor Umweltschäden – aber auf dieser Linie hat das Gericht eben einen bedeutenden Schritt nach vorn getan. Einerseits.
„Der Gerichtshof will nicht in den demokratischen Prozess eingreifen“, sagt Zünd
Andererseits macht der Gerichtshof an mehreren Stellen deutlich, dass er gerade nicht auf dem Feld der Politik tätig wird. „Der Gerichtshof will nicht in den demokratischen Prozess eingreifen, er hat im Gegenteil betont, wie wichtig dieser demokratische Prozess ist“, so hatte es Andreas Zünd erläutert. „Der Gerichtshof gewährt der Schweiz einen großen Spielraum bei der Wahl der Mittel, mit denen das Urteil umgesetzt wird.“
Die Schweizer Bundesrichterin Julia Hänni fasst das Urteil in einem Aufsatz in einer Fachzeitschrift so zusammen: Die Schweiz müsse generelle Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen auf den Weg bringen, sie müsse Zwischenziele formulieren und wissenschaftlich überprüfen, ob die Reduktionsziele erreicht wurden. Dies aber, so Hänni, seien letztlich die Pflichten aus den Klimaverträgen. Soll heißen: Der höchstrichterliche Übergriff, den angeblich aktivistische Richter der Schweiz angetan haben, fordert im Grunde nur das, wozu die Schweiz sich selbst per Unterschrift unter das Pariser Klimaschutzabkommen verpflichtet hat. Nur dass die Umsetzung dieser Verpflichtungen fortan unter den Augen des Straßburger Gerichtshofs stattfindet.