Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Geld gegen Schleier

Ein Unternehmer will das Burka-Verbot im Tessin unterlaufen: Aus einem Fonds sollen die Bußgelder für Verschleierte bezahlt werden.

Von Charlotte Theile, Zürich

Soll es im öffentlichen Raum erlaubt sein, das Gesicht zu verhüllen? Für Rachid Nekkaz, einen algerischen Immobilien-Unternehmer, der bis vor Kurzem auch einen französischen Pass hatte, entscheidet sich an diesem Detail alles - die Freiheit einer Gesellschaft, Menschenwürde, Verfassungstreue, Toleranz. Im Moment hat Nekkaz die Schweiz im Blick, genauer gesagt: den italienischsprachigen Kanton Tessin im Süden des Landes. 350 000 Menschen leben hier, fast siebzig Prozent sind römisch-katholisch. Zählt man evangelische Christen und Atheisten dazu, landet man bei mehr als 90 Prozent. Muslime gibt es kaum. Dennoch beschäftigt das Tessin in diesen Tagen ein Gesetz, das sich an strenggläubige Muslime richtet. Anfang der Woche beschloss der Große Rat des Kantons ein Gesetz, das es verbietet, im öffentlichen Raum sein Gesicht zu verhüllen. Auch wenn der Niqab, bei dem nur ein schmaler Sichtstreifen frei bleibt, und die Burka, ein Ganzkörperschleier mit vergittertem Sehschlitz, im Gesetz nicht explizit genannt werden - sie sind gemeint. Der Vorstoß wird auch als "Anti-Burka-Gesetz" bezeichnet.

Rachid Nekkaz, der in Paris geboren ist und an der Sorbonne Philosophie studierte, kann mit den Gesichtsschleiern nicht viel anfangen. Dennoch hat sich der 43-Jährige, der sich als moderaten Muslim sieht, entschlossen, gegen das Tessiner Gesetz anzukämpfen. Wie schon in Frankreich und Belgien bietet Nekkaz Frauen, die für ihren Schleier eine Buße bekommen, an, die Zahlung für sie zu übernehmen. Er hat vor Jahren eigens dafür einen Fonds eingerichtet.

Warum er das macht? Rachid Nekkaz schnaubt ins Telefon. Dann wird er grundsätzlich. Europas Demokratien seien dabei, ihre Verfassungen, die Meinungs- und Religionsfreiheit garantieren, zu beschädigen, glaubt er. "Im öffentlichen Raum soll jeder herumlaufen dürfen, wie er möchte, gepierct, tätowiert, mit Schleier", findet der Algerier, der immer wieder versucht hat, in Frankreich und Algerien in die Politik zu gehen. Bisher mit bescheidenem Erfolg. Seine Bekanntheit verdankt er vor allem dem Engagement gegen Schleier-Verbote. Am Arbeitsplatz oder in Einkaufszentren sehe die Sache anders aus, sagt Nekkaz. "Wer dort einen Gesichtsschleier trägt, bekommt die Buße nicht erstattet." Der Kopftuchstreit, der gerade vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt wurde, sei nicht seine Sache. "Es geht mir nur um die Straße." Dort wolle er die Freiheit des Individuums hochhalten.

Womöglich hat Rachid Nekkaz bald mehr zu tun: Ein Verbot für die ganze Schweiz ist in Arbeit

Wie zum Beweis, dass er kein Fundamentalist sei, reicht er das Telefon seiner Frau, einer Amerikanerin, die zum Islam konvertiert ist, aber kein Kopftuch trägt. Sie glaubt, die Burka-Gesetze seien ein bequemes Mittel für Politiker, Stimmung gegen Muslime zu machen. "Das Tessin macht das besonders deutlich: Dort gibt es kein Problem mit radikalen Muslimen. Die einzigen, die dort Gesichtsschleier tragen, sind Touristinnen", sagt Cécile Le Roux, Nekkaz' Ehefrau. Tatsächlich waren die lokalen Tourismusbehörden nicht glücklich über das Gesetz. Sie fürchten, es könnte Reisende aus dem arabischen Raum fernhalten. Für diese Kundschaft ist das Bußgeld, das zwischen 100 und 10 000 Franken liegt, weniger wichtig als das Signal, das vom Tessin ausgeht. "Es ist ein Signal des Hasses", glaubt Le Roux.

65 % der Tessiner

haben im September 2013 für das Volksbegehren eines politischen Einzelkämpfers namens Giorgio Ghiringhelli gestimmt. Genau wie das nun beschlossene Gesetz erwähnt der Initiativ-Text Burka und Niqab mit keinem Wort, sondern legt allgemein fest, dass es auf öffentlichen Straßen und Plätzen untersagt sein soll, das Gesicht zu verhüllen oder zu verbergen. Im Wahlkampf machte Ghiringhelli, Gründer einer Partei namens "Spielverderber", jedoch unmissverständlich klar, gegen wen sich sein Vorstoß richtete. Er glaube nicht, dass der Islam eine friedfertige Religion sei, sagte er. Auch der Vorwurf, islamophob zu sein, störe ihn nicht im Geringsten.

Dass diese Gesetze in Europa Erfolg haben, zeigt für sie, dass der Kontinent nicht begriffen habe, dass er Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen sei. "Ich hoffe, dass ich nicht bald eines Besseren belehrt werde. Aber noch würde ich sagen: In den USA sind solche Gesetze nicht möglich, weil wir gelernt haben, mit Vielfalt umzugehen." In Europa würde stets über die politische Korrektheit ihres Heimatlandes geschmunzelt. "Ich finde aber: Was ist falsch daran, nachzudenken, bevor man spricht?" Europa, wo die Menschen so viel Wert auf ihre Bildung legten, müsse lernen zu differenzieren.

Nekkaz und seine Frau sehen sich als Menschenrechtsaktivisten. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte allerdings hatte ihre Position keinen Erfolg. 2014 urteilten die Richter, Frankreichs Verschleierungs-Verbot sei zulässig, eine Gesellschaft habe das Recht, die Regeln des Zusammenlebens zu gestalten. Es handle sich dabei weder um Diskriminierung, noch verstoße es gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Auch Rachid Nekkaz macht Ausnahmen, was die Freiheit zur Verhüllung angeht. Seine Aktion gelte ausschließlich für den Niqab, nicht für die Burka, stellt er klar: "Die Burka ist ein Gefängnis." Allerdings werde der vergitterte Ganzkörperschleier nur in Afghanistan getragen, auf den Straßen von Paris oder Lugano spiele er keine Rolle.

Im Tessin soll das Gesetz, das vor zwei Jahren per Volksabstimmung auf den Weg gebracht wurde, ab dem Frühjahr 2016 gelten. Und: Es gibt Bestrebungen, das Schleier-Verbot in der gesamten Schweiz zur Abstimmung zu bringen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Das Komitee, das für das Gesetz kämpft, setzte 2009 ein landesweites Bauverbot für Minarette durch.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2015
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