Süddeutsche Zeitung

Ungleichbehandlung:Frauen in der Schweiz legen die Arbeit nieder

Lesezeit: 4 min

Von Isabel Pfaff, Bern

Itziar Marañón arbeitet gern und viel. Tagsüber als Projektleiterin in der Integrationsabteilung der Stadt Bern, die Abende gehen oft für Vereinsarbeit drauf, und dann gibt es noch ihre zwei Söhne, acht und fünf Jahre alt. Aber an diesem Freitag soll all das für einen Tag stillstehen. Itziar Marañón streikt.

Die kleine Frau mit den hohen Absätzen ist Neu-Schweizerin. Vor elf Jahren kam sie aus Spanien hierher, ihrem Mann zuliebe. Seit dem vergangenen Jahr hat die 42-Jährige einen Schweizer Pass und weiß: Dafür, dass vieles hier sehr gut funktioniert, ist die Situation für Frauen erstaunlich schwierig. "Die Schweiz ist eine konservative Gesellschaft", sagt Itziar Marañón. "Und auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: eine sexistische Gesellschaft."

Das sehen auch viele andere Schweizerinnen so. An diesem Freitag wollen sie streiken - schon zum zweiten Mal in der Geschichte des Landes. Am 14. Juni 1991 riefen Frauen zum ersten Mal dazu auf, bezahlte und unbezahlte Arbeit niederzulegen. Ausgangspunkt war die Unzufriedenheit der Uhrenarbeiterinnen im Jura, die deutlich weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Frauen in der Schweiz gerade mal 20 Jahre lang das Wahlrecht. Der Gleichstellungsartikel in der Verfassung war knappe 10 Jahre alt und so gut wie gar nicht umgesetzt. Erst seit 1984 saß auch eine Frau im Regierungsgremium, dem Bundesrat. Der Frust war so groß, dass etwa eine halbe Million Schweizerinnen am Frauenstreik teilnahmen.

28 Jahre später hoffen die Organisatorinnen - Gewerkschaften, linke Politikerinnen, Aktivistinnen - auf einen ähnlichen Erfolg. Itziar Marañón ist Mitglied im Frauenstreikkomitee von Bern, seit Wochen verbringt sie ihre freie Zeit an Infoständen, in Sitzungen und auf Podien. Es ist die Woche des Streiks, Endspurt. Mit einer Mitstreiterin trifft sie sich in der Mittagspause, um in der Innenstadt Flyer zu verteilen. Auf Marañóns Mantel klebt der lila Streiksticker, eine schwarze Faust mit lackiertem Nagel. Etwa die Hälfte der Passantinnen ist interessiert, Marañón verwickelt sie lächelnd in ein Gespräch, tritt etwas näher heran als nötig. "Das wird ein Tag nur für uns!", verspricht sie strahlend. Einige Frauen winken mürrisch ab, für ein paar andere antwortet der begleitende Mann: "Danke, brauchen wir nicht."

Flyer verteilen sei ein gutes Bad in der Realität, sagt Itziar Marañón. In ihrer "Streik-Bubble" seien alle davon überzeugt, dass der Freitag ein rauschendes Fest werde, ein voller Erfolg. "Dabei ist in diesem Land noch viel, viel, viel zu tun."

Männer haben Anrecht auf einen einzigen Tag Vaterschaftsurlaub

Immerhin: Seit 1996 gibt es in der Schweiz ein Gleichstellungsgesetz, das den Verfassungsartikel umsetzt. Nach langem Ringen wurde 2005 ein bezahlter Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen eingeführt (frühere Versuche wurden unter anderem vom Volk selbst per Abstimmung gekippt). Die Gesetze zu sexueller Gewalt sind heute strenger als 1991. Und im Bundesrat sind derzeit drei von sieben Mitgliedern Frauen, sie besetzen unter anderem das Verteidigungs- und das Justizressort.

Doch die Lohngleichheit ist längst noch nicht erreicht, der Unterschied zwischen Männern und Frauen betrug 2016 immer noch 18,3 Prozent. Laut Bundesamt für Statistik sind nur 56 Prozent dieser Differenz erklärbar durch Faktoren wie Branche, Ausbildung oder berufliche Stellung. Die Teilzeitquote unter Schweizerinnen ist hoch, nur 41 Prozent der erwerbstätigen Frauen arbeiten voll - in Deutschland, wo Frauen ebenfalls oft reduziert arbeiten, sind es immerhin mehr als 50 Prozent. Schweizer Männer arbeiten zu mehr als 80 Prozent Vollzeit. Ein Effekt dieser Lohn- und Arbeitszeitunterschiede: Schweizerinnen erhalten im Schnitt nur halb so hohe Renten wie Schweizer.

Und: Unbezahlte Familienarbeit bleibt in der Schweiz immer noch mehrheitlich an den Frauen hängen. Männer haben Anrecht auf einen einzigen Tag Vaterschaftsurlaub. Manche Unternehmen und Kantone gewähren zwar mehr, aber der Bund schreckt bislang vor einer gesetzlichen Verlängerung zurück. Erst Ende Mai ließ die Regierung wissen, dass sie nicht nur die von einer Volksinitiative geforderten vier Wochen Vaterschaftsurlaub ablehnt. Auch das Modell eines zweiwöchigen Urlaubs, das eine Parlamentskommission vorgeschlagen hatte, hält der Bundesrat für zu teuer.

Itziar Marañóns zweiter Sohn war vier Monate alt, als sie anfing, bei der Berner Stadtverwaltung zu arbeiten. Sie hat eine 80-Prozent-Stelle und ist glücklich damit. Doch immer wieder, erzählt sie, eckt sie damit an. "So viel?", werde sie regelmäßig gefragt. Ihr Mann, der anfangs auch 80 Prozent, inzwischen sogar nur noch 60 Prozent arbeitet, werde dagegen für sein Familienengagement gefeiert. "Das war mein erster Aha-Moment", erzählt sie. Inzwischen weiß sie, wie hoch die Hürden für Schweizerinnen sind, die trotz Familie einem Beruf nachgehen wollen: Kitas sind im europäischen Vergleich sehr teuer, und Mittagsbetreuung für Schulkinder wird vor allem in den Deutschschweizer Kantonen selten angeboten.

Sechs von zehn Schweizerinnen geben an, schon sexuell belästigt worden zu sein

All das stört Itziar Marañón. Richtig zornig wird sie aber, wenn es um Gewalt an Frauen geht. Alle zwei Wochen werde in der Schweiz eine Frau ermordet, "das ist superkrass, im Verhältnis zur Bevölkerung doppelt so viele wie in Spanien!" Und gleichzeitig sei sexistische Gewalt praktisch kein Thema, es gebe wenig Berichte oder Kampagnen. Dabei zeigt eine von Amnesty International Schweiz in Auftrag gegebene Studie vom Mai, dass sexuelle Belästigung und Gewalt in der Schweiz weit verbreitet sind: Fast 60 Prozent der befragten Frauen gaben an, sexuell belästigt worden zu sein, jede fünfte Frau hat sogar ungewollte sexuelle Handlungen erfahren. "Ich erlebe es, dass vor allem junge Frauen diese Gewalt nicht länger akzeptieren wollen und deshalb streiken", sagt Marañón.

Wie viele Frauen dem Streikaufruf am Freitag folgen werden, lässt sich schwer schätzen. Für den Streik mobilisieren vor allem linke Gruppen und Parteien in allen Teilen der Schweiz, wobei die Bewegung in der Romandie am stärksten ist. Die bürgerlichen Parteien und Verbände lehnen den Streik ab, wollen den 14. Juni aber als "Aktionstag" für mehr Chancengleichheit begehen. Ein paar Unternehmen geben an, ihre Mitarbeiterinnen müssten mit keinerlei Konsequenzen rechnen, wenn sie teilnehmen. Die meisten Firmen erwarten, dass die Frauen den Streiktag vom Urlaub abziehen. Viele werden daher wohl nicht oder nur teilweise streiken, die Organisatorinnen rufen entsprechend auch zu kleinen Protestformen auf wie lila Kleidung oder kurzen Streikpausen.

Itziar Marañón weiß noch nicht, wie sie den Streiktag abrechnen wird. Ihr Arbeitgeber, der Gemeinderat, habe gesagt, er begrüße den Streik, die Frauen dürften gerne Urlaub nehmen. Sie tippt sich an die Stirn: "Vielen Dank auch!" Fest steht: Ins Büro geht sie nicht, und ihr Mann nimmt die Kinder. Sie wird den Streiktag vor allem auf dem Berner Bundesplatz verbringen. Dort gibt es den ganzen Tag Aktionen und Kundgebungen, am Abend startet dann die große Demo. Marañón gehört zu den Rednerinnen, und sie wird sich nicht zurücknehmen - auch wenn einige Schweizer ihr als Migrantin Kritik besonders übel nehmen. "Wenn wir Frauen nicht kämpfen, werden wir nichts kriegen", sagt sie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4486102
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.