Süddeutsche Zeitung

Corona:Schweiz lockert mitten in der dritten Welle

Trotz einer bedenklichen Infektionslage verkündet die Berner Regierung weitreichende Öffnungen. Epidemiologen warnen, das Land könne sich damit den Sommer verspielen.

Von Thomas Kirchner, München

Der Vergleich mit dem Nachbarn im Norden liegt nahe. Wie in Deutschland nimmt auch in der Schweiz die dritte Welle der Corona-Pandemie gerade Fahrt auf. Die Ansteckungszahlen sind im Vergleich höher, mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 175, der aktuellste R-Wert liegt bei 1,14 und zeigt an, dass sich das Virus gerade wieder mit großer Geschwindigkeit im Land verbreitet. Doch statt die Notbremse ziehen zu wollen wie die Bundesregierung, lockert der Schweizer Bundesrat die Bremse, und zwar kräftig.

Von Montag an dürfen die Restaurants im Freien wieder Gäste empfangen, mit maximal vier Personen pro Tisch, Maskenpflicht und Abständen. Auch Kinos, Theater, Fitnesszentren sowie andere Sport- und Freizeitanlagen, etwa Zoos mit Innengehegen oder botanische Gärten, können öffnen, mit maximal 50 Besuchern. Bei Freiluft-Veranstaltungen dürfen bis zu 100 Menschen zusammenkommen. Chöre dürfen wieder proben, Universitäten Präsenzunterricht anbieten.

Europaweit handelt es sich damit in Anbetracht der Infektionslage um den bisher waghalsigsten Öffnungsschritt. Er kam für die meisten Beobachter überraschend. Die Lage sei "fragil", räumte Gesundheitsminister Alain Berset am Mittwoch ein. Die Fallzahlen stiegen zwar, "aber nicht sehr stark", man habe die Kontrolle über das epidemische Geschehen. Deshalb handle es sich um ein "kalkulierbares Risiko". Auch hätten die jüngsten Öffnungsschritte im März die Fallzahlen nicht explodieren lassen. Entscheidend sei, dass man bei der Durchimpfung gefährdeter Personen, insbesondere älterer Menschen, gut vorankomme und die Zahl der Krankenhauseinweisungen daher nur leicht steige. Bisher war weitgehend geklagt worden, dass die Schweiz den Nachbarn Deutschland und Österreich beim Impftempo eher hinterherhinke und vor allem zu wenig Impfstoff zur Verfügung habe.

Der Bundesrat ignoriert mit dem Schritt die eigenen Kriterien, die er sich kürzlich für weitere Öffnungen gesetzt hatte. Dazu zählen unter anderem die Inzidenz, die Zahl der Krankenhauseinweisungen und die Belegung der Intensivbetten. Tatsächlich liegt nur die Zahl der Intensivpatienten mit Covid-19 unter der vorgegebenen Grenze.

Den Öffnungen ging ein massives Lobbying der Wirtschaft voraus

Wissenschaftler äußerten sich überwiegend kritisch. "Ich habe große Bedenken, wie sich die Epidemie in der Schweiz nun entwickeln wird", sagte der Epidemiologe Christian Althaus dem Tages-Anzeiger. "Wir sollten aufpassen, dass wir uns mit den aktuellen Lockerungen den Sommer nicht verspielen." Die Lockerungen seien "nicht nachzuvollziehen und werden unnötig Kranke und Tote zur Folge haben", twitterte die Virologin Isabella Eckerle. Die Folgen könnten "verfrühter Optimismus und damit unvorsichtiges Handeln" sein, warnte der Neurowissenschaftler Dominique de Quervain.

Der Öffnungsschritt ähnelt dem Vorgehen des Bundesrats im August 2020. Damals hatte das Gremium in die sich abzeichnende zweite Welle hinein sogar die Wiederzulassung von Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen verfügt - eine Fehlentscheidung, wie Berset später zugab.

Den jetzigen Öffnungen ging ein wochenlanges massives Lobbying der Wirtschaft voraus. Die Wirtschaftskommission des Parlaments hatte sich ebenso für kräftige Lockerungen ausgesprochen wie zahlreiche Branchenorganisationen. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt hatte gar gesagt, dass man auch mit Fallzahlen von 20 000 bis 30 000 pro Tag leben könnte, wenn die Risikogruppen einmal durchgeimpft seien. In Deutschland entspräche das 200 000 bis 300 000 Ansteckungen pro Tag. Der Infektiologe Manuel Battegay sprach daraufhin von "unverantwortlichen, unethischen und unsachlichen Durchseuchungsvorschlägen".

Einmal mehr hat die Schweizer Politik damit wirtschaftlichen Überlegungen Priorität eingeräumt. Die im Bundesrat vertretenen Parteien unterstützten die Entscheidung, wobei die Sozialdemokraten von einer "Gratwanderung" sprachen. Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei hält den Schritt noch für viel zu zögerlich. Ihr Minister Ueli Maurer hatte sich für eine völlige Aufhebung aller Maßnahmen von Mai an starkgemacht. Mehrere Wirtschaftsverbände äußerten sich enttäuscht.

"Wir haben auf jeden Fall Lust auf Kino."

In den Medien wurde kaum grundsätzliche Kritik am Vorgehen der Regierung geäußert. "Endlich hat der Bundesrat gehandelt", kommentierte der Tages-Anzeiger. Jetzt müssten "nur noch die bestellten Impfdosen eintreffen". Im Mittagsjournal des Schweizer Radios SRF1 wurde am Donnerstag nicht etwa über Sinn und Unsinn der Öffnungen diskutiert, sondern als Erstes die Frage gestellt, ob sich die neuen Möglichkeiten für die Wirte oder andere Veranstalter überhaupt lohnten.

"Wir haben auf jeden Fall Lust auf Kino", sagte Eveline Schaffner, Sprecherin des Zürcher Kulturhauses Kosmos. Viele Städte wollen nun großzügig sein und den Restaurants mehr Platz im Freien gewähren. Lausanne erlässt den Wirten die Gebühren für die Nutzung des öffentlichen Raums. In Zürich sind jetzt Gastronomie-Zelte erlaubt, solange sie mit erneuerbaren Energien beheizt werden.

Der Bündner Gesundheitsdirektor Peter Peyer verteidigte den Regierungsbeschluss. Sein Kanton gilt als experimentierfreudig. Er hielt die Skigebiete im Winter dauerhaft offen, in Verbindung mit vermehrtem Testen. Die Politik müsse eben das "Gesamtbild" beurteilen und "alle Anspruchsgruppen" berücksichtigen, sagte Peyer im Radio SRF. Die von der Regierung nun ignorierten Öffnungskriterien seien lediglich "Richtwerte". Dass die Behörden in absehbarer Zeit womöglich wieder stark auf die Bremse treten müssten, könne sein. "Aber wir hoffen es nicht. Es hängt vom Willen ab."

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