Bundesrat:Die Schweiz zweifelt an der Zauberformel

Bundesrat: Womöglich der letzte Amtseid nach alter Formel: Die sieben Mitglieder des Schweizer Bundesrats nach den Wahlen im Dezember 2019.

Womöglich der letzte Amtseid nach alter Formel: Die sieben Mitglieder des Schweizer Bundesrats nach den Wahlen im Dezember 2019.

(Foto: Peter Klaunzer/AFP)

Seit Jahrzehnten besteht die Regierung in Bern aus Mitgliedern der vier stärksten Parteien. Doch ein Jahr vor der Wahl wächst der Druck, das Modell zu verändern.

Von Isabel Pfaff, Bern

Die Schweiz, diese alte und tausendfach erprobte Demokratie, wirkt manchmal überraschend undemokratisch. Ihre Regierung zum Beispiel bleibt oft über Jahre unverändert - obwohl alle vier Jahre Parlamentswahlen stattfinden und es danach durchaus zu parteipolitischen Verschiebungen im Bundeshaus in Bern kommt.

Doch die übertragen sich in der Regel nicht direkt auf den Bundesrat, wie die Schweizer Exekutive heißt. Wenn die neu gewählten Abgeordneten zu ihrer ersten Parlamentssession zusammenkommen, wählen sie zwar auch die Bundesratsmitglieder neu. Doch als handle es sich hier um eine Show-Demokratie, bestätigen sie üblicherweise alle bisherigen Amtsinhaber. Aufreibende Koalitionsverhandlungen, Gezerre um Ministerposten? Gibt es hier nicht. In Bern bleibt meistens alles beim Alten. Die Schweizer Regierung ist auf Beständigkeit ausgelegt.

Deshalb ist es auch eine große Nachricht, wenn mal einer aus diesem Gremium ausscheidet - wie der aktuelle Finanzminister Ueli Maurer, der am vergangenen Freitag ankündigte, zum Ende des Jahres zurückzutreten. Etwa ein Jahr vor den nächsten Wahlen wird damit ein Platz im siebenköpfigen Bundesrat frei. Im Dezember soll Maurers Nachfolger gewählt werden.

Damit hat Maurers Partei, die SVP, früher als erwartet das Wahljahr eingeläutet. Am 22. Oktober 2023 bestimmen die Schweizerinnen und Schweizer ein neues Parlament, und wie immer wird im Dezember danach auch der Bundesrat "gesamterneuert", wie es so schön heißt. Es könnte diesmal wirklich zu einer Erneuerung kommen - nicht nur wegen Maurers Rücktritt.

Die Tendenz zur übergroßen Koalition ist eine Folge der direkten Demokratie

Die Schweizer Regierung befindet sich im Umbruch, und das eigentlich schon seit 2019. Bei den damaligen Wahlen gewannen die Grünen und die Grünliberalen so viele Sitze hinzu, dass viele sich fragten, warum diese Parteien eigentlich kein Regierungsmitglied stellen. Schließlich herrscht in der Schweiz das Konkordanzprinzip: der Anspruch, dass alle einflussreichen politischen Strömungen in der Regierung vertreten sein sollen.

Die Tendenz zu einer sogenannten übergroßen Koalition ist letztlich eine Folge der direkten Demokratie: Wenn alle politischen Akteure eines Landes - Parteien, Verbände, Einzelpersonen - in der Lage sind, mit ein paar wenigen Zehntausend Unterschriften Volksabstimmungen durchzusetzen und damit Gesetze zu Fall zu bringen, ergibt es Sinn, die relevanten Kräfte schon vorher in den politischen Prozess einzubeziehen. Denn wer sich ausgeschlossen fühlt, kann die politische Arbeit relativ leicht mit Referenden blockieren.

Aus dieser Notwendigkeit heraus entstand 1959 die berühmte Zauberformel, nach der sich der Bundesrat bis heute zusammensetzt: je zwei Sitze für die drei stärksten Parteien, ein Sitz für die viertstärkste Partei. Über Jahrzehnte hat dieser Schlüssel die politischen Kräfteverhältnisse beinahe perfekt abgebildet.

Änderungen gab es erst Anfang des neuen Jahrtausends, als die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) so stark geworden war, dass die Christdemokraten, die heutige Mitte-Partei, ihr einen von zwei Sitzen abtreten mussten. Und dann natürlich die Zäsur 2007, als das Parlament in einem spektakulären Manöver Bundesrat und SVP-Alphatier Christoph Blocher abwählte.

Der Rechtspopulist hatte sich so unbundesrätlich verhalten, dass die Abgeordneten statt Blocher lieber ein gemäßigtes SVP-Mitglied ohne Segen der Fraktion - Eveline Widmer-Schlumpf - zur Bundesrätin machten. Die SVP schloss daraufhin Widmer-Schlumpf aus der Partei aus. Als sich auch der zweite SVP-Bundesrat von der Partei abwandte, war die stärkste politische Kraft der Schweiz etwa ein Jahr lang nicht in der Regierung vertreten - eine absolute Ausnahme, der das Parlament schon bald ein Ende machte.

Laut Umfragen wird die grüne Welle anhalten

Mittlerweile ist die alte Zauberformel wieder intakt. Doch spätestens seit den Wahlen 2019 ist klar: Will die Schweiz an der Konkordanz festhalten, muss sich die Formel ändern. Einzig der Sitzanspruch der SVP ist dank ihrer fast 26 Prozent Wähleranteil weitgehend unbestritten. Die vier Parteien dahinter allerdings - Sozialdemokraten (knapp 17 Prozent), FDP (15 Prozent), Grüne (13 Prozent) und die Mitte (gute 11 Prozent) - liegen so nah beieinander, dass nicht mehr erklärbar ist, warum SP und FDP zwei Sitze haben, die Mitte einen und die Grünen keinen.

Bei den Gesamterneuerungswahlen 2019 wagte das Parlament noch keinen Bruch mit der alten Formel. Doch im kommenden Jahr, das zeigen Umfragen, dürfte sich die grüne Welle bestätigen. Der Druck auf das Parlament, diese Verschiebung auch bei der Regierungswahl zu berücksichtigen, wird dann deutlich größer sein als beim letzten Mal. Denn, zurück zum Ausgangspunkt: So demokratisch tickt die Schweiz dann eben doch.

Nur wie soll eine neue Formel aussehen? Muss die FDP oder die SP einen Sitz an die Grünen abgeben? Oder gar die Mitte, die den geringsten Wähleranteil hat, aber dafür im Ständerat eine wichtige Rolle spielt? Und was ist mit den Grünliberalen, die ja auch zur grünen Welle beigetragen haben? Auf diese Fragen müssen die Schweizer Parlamentarier im nächsten Dezember Antworten finden.

Das ist schon deshalb schwierig, weil das Regierungssystem in Bern zu einem großen Teil aus ungeschriebenen Regeln besteht. Eine davon ist der Grundsatz, dass man amtierende Bundesräte nicht ohne triftigen Grund abwählt. Er ermöglicht dem Gremium normalerweise, relativ unabhängig und sachorientiert zu regieren. Nur: Genau dieser Vorteil kommt in letzter Zeit kaum noch zum Tragen.

Die sich abzeichnende Veränderung der Zauberformel hat aus dem einstigen Kollegialgremium, das Meinungsunterschiede geheim hält und nach außen geschlossen auftritt, sieben rivalisierende Einzelkämpfer und -kämpferinnen gemacht, die fast alle um ihren Sitz bangen müssen. Richtungsweisende Entscheidungen, etwa beim Thema EU, kriegt dieser Bundesrat gerade nicht hin. Er wirkt derart gelähmt, dass Schweizer Medien von einem "dysfunktionalen" Gremium schreiben. Die linke Wochenzeitung empfahl den sieben Bundesräten im August gar den geschlossenen Rücktritt.

Nun hat Ueli Maurer den Anfang gemacht. Seine Partei sitzt fest im Sattel und erhält durch die Ersatzwahl im kommenden Dezember maximale Aufmerksamkeit zu Beginn des Wahljahres. Für die übrigen Bundesräte und ihre Parteien birgt ein Rücktritt mehr Risiko. Sie dürften wohl lieber abwarten, was die Wahlen Neues zaubern werden.

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