Sie heißen Calanda, Beverin oder Ringelspitz und sie lehren die Viehhalter das Fürchten: Elf Wolfsrudel haben sich seit der Rückkehr des Wolfs Mitte der Neunziger in der Schweiz angesiedelt, mehr als 100 Tiere. Eine eindrückliche Ausbreitung, immerhin kamen die ersten Welpen eines Schweizer Rudels erst 2012 zur Welt. Die meisten Wölfe streifen durch die Wälder und Täler Graubündens: sechs Rudel mit insgesamt etwa 50 Tieren. Und wie überall, wo der Wolf wieder auftaucht, macht er sich nicht nur Freunde.
Mehr als 250 Nutztiere haben Wölfe in Graubünden im Jahr 2020 gerissen - entsprechend ihrer eigenen Verdoppelung rund doppelt so viele wie im Vorjahr. Vor allem rissen sie Schafe, aber auch Ziegen, Kälber und sogar einen Esel. Und jüngst, vor wenigen Wochen, kam es zum Super-Angriff: Auf einer Alp oberhalb von Klosters attackierten die Raubtiere eine Herde von 700 Schafen, 17 starben. Weitere Angriffe konnten die Bauern laut eigener Aussage nur durch Nachtwachen verhindern. In jeder Nacht sei der Wolf zurückgekommen, sagten sie dem Tages-Anzeiger. Letztlich gaben sie auf: notfallmäßige Abalpung also, wie ein solcher Abbruch der Alp-Saison heißt.
Nun kocht die Wut unter den Bergbewohnern - vor allem, weil sie sich im Stich gelassen fühlen von der restlichen Schweiz. Denn im vergangenen September stimmte die Bevölkerung über das revidierte Jagdgesetz ab. Es sollte die strengen Schutzbestimmungen lockern. Unter anderem hätte es den präventiven Abschuss einzelner Tiere erlaubt. Das gefiel vielen Naturschützern nicht, sie erzwangen das Referendum - und siegten. Vor allem Städter und Flachländer hatten sich gegen das neue Gesetz ausgesprochen und damit die Bergler aus Graubünden und dem Wallis, wo man mit dem Wolf leben muss, schlicht überstimmt.
Jetzt, nach mehreren schweren Wolfangriffen, erhöhen die Berggebiete den Druck auf die Schweizer Regierung. Der Verein "Schutz der ländlichen Räume vor Grossraubtieren" forderte vor wenigen Tagen in einem offenen Brief an die Umweltministerin, schnell Maßnahmen gegen "die unkontrollierte Ausbreitung des Wolfs" zu ergreifen. Anderenfalls würden "die betroffenen Berggebiete in kurzer Zeit ausbluten". Immer weniger Weiden würden bewirtschaftet und weite Teile der Alpen würden "verbuschen", heißt es in einer anderen Mitteilung des Vereins.
Man könne Schafherden nun mal nicht mehr einfach sich selbst überlassen, geben die Wolfsliebhaber zurück. Sie verweisen auf Möglichkeiten, die Herden mit Zäunen und Hunden zu schützen - was einige Viehhalter bis heute nicht tun, obwohl es staatlich gefördert wird. Als eine Art Friedensangebot haben die Umweltverbände Pro Natura und WWF ein Helfer-Projekt lanciert, bei dem sich Freiwillige dafür ausbilden lassen, die Bauern beim Herdenschutz zu unterstützen: zum Beispiel durch Wachdienste oder das Aufstellen von Zäunen. Bislang, so berichtet die Bauernzeitung, ist das Interesse unter den Landwirten jedoch eher gering.
Der Graben, den der Wolf durch die Schweiz gezogen hat, wird wohl nicht so schnell verschwinden. Zumal der Bestand weiter wächst: Allein in Graubünden kamen 2020 mindestens 30 Welpen zur Welt.