Schweiz:Ausgezaubert

Immer mit der Ruhe, nichts überstürzen: Das Land ist bislang gut gefahren mit seinem trägen politischen System. Doch die Zeiten ändern sich. Die Grünen nicht an der Regierung zu beteiligen, ist ein Fehler.

Von Isabel Pfaff

Im politischen System der Schweiz gibt es einige recht sonderbare Regeln. Zum Beispiel ist es Brauch, dass neu gewählte Abgeordnete sich während ihrer ersten Parlamentssession möglichst nicht zu Wort melden; sie sollen schließlich noch lernen. Im Ständerat, der kleinen Kammer, sind Laptops verpönt. Und dann gibt es noch die berühmte Zauberformel: den Parteienschlüssel, nach dem sich der Bundesrat, das siebenköpfige Regierungsgremium der Schweiz, seit 60 Jahren zusammensetzt. All diese Regeln sind nicht festgeschrieben, sie sind so etwas wie das Gewohnheitsrecht des Bundeshauses - und Merkmal eines Systems, das in den vergangenen Jahrzehnten kaum Brüche erlebt hat.

Bei den nationalen Wahlen am 20. Oktober erschütterte dann doch ein politisches Erdbeben die Schweiz: Getragen von der Klimabewegung und dank der erfolgreichen Mobilisierung junger Menschen gewannen die Grünen und die Grünliberalen so viele Stimmen hinzu, dass sie nun zusammen die zweitstärkste Kraft im Nationalrat hinter der rechtskonservativen SVP bilden. Die Grünen allein haben 17 Sitze mehr als vorher - einen derartigen Zuwachs hat noch keine Partei vor ihnen verbuchen können, nicht einmal die SVP.

Doch bei den Bundesratswahlen am Mittwoch wirkte es so, als habe es die grüne Welle nie gegeben. Alle sieben amtierenden Bundesräte wurden traditionsgemäß vom Parlament im Amt bestätigt - auch der umstrittene Ignazio Cassis, FDP-Mann und Außenminister. Gegen ihn trat Grünen-Chefin Regula Rytz in einer Kampfkandidatur an, doch sie konnte nur 82 der nötigen 120 Stimmen holen.

Die alte Zauberformel, sie gilt also noch immer: je zwei Regierungssitze für die SVP, die liberale FDP und die Sozialdemokraten, ein Sitz für die Christdemokraten. Die Schweiz hat sich wieder einmal für Stabilität entschieden - und dabei eine große Chance verpasst.

Die 246 Parlamentarier hätten dem Umstand Rechnung tragen können, dass sich die Welt heute schneller dreht als noch 1959, als die Zauberformel entstand. Dass es drängende Probleme wie den Klimawandel gibt, die grüne Expertise in der Regierung nötig machen. Und nicht zuletzt, dass die Wähler deutlich gemacht haben, dass ihnen ökologische Perspektiven in der Politik zu kurz kommen. Stattdessen verwiesen die Gegner der grünen Kandidatur auf alte Gepflogenheiten - etwa die Regel, amtierende Bundesräte nicht abzuwählen, sondern abzuwarten, bis ein Sitz durch einen Rücktritt frei wird. Oder den Brauch, dass man bei veränderten Kräfteverhältnissen im Parlament erst einmal abwartet, ob sie sich wirklich bestätigen, bevor man etwas am Bundesrat ändert. Sicherlich, bisher ist die Schweiz mit diesem trägen politischen System nicht allzu schlecht gefahren. Doch die Zeiten ändern sich. Schon länger passen die Wahlergebnisse nicht mehr so recht zur Zauberformel; die Parteistärken ändern sich rascher als noch vor 30 Jahren. Der grüne Erfolg ist nur der jüngste Hinweis darauf, dass die Schweiz im politischen Umbruch steckt. Die Parlamentsmehrheit hat davor die Augen verschlossen.

In gewisser Weise werden die Politiker damit dem Kernprinzip ihres Regierungssystems untreu: der Konkordanz, also der Einbindung aller relevanten politischen Kräfte in die Exekutive. Nun ist ein beachtlicher Teil der Wähler im Bundesrat nicht vertreten. Dem berühmten Schweizer Demokratieverständnis läuft das zuwider.

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