Schweiz:Abrüstung im Waffenland

Swiss flags are pictured on the rifle of a participant to the Fribourg County 300m riffle final at the shooting range in Romont

Feuer frei: In Fribourg nimmt ein Schweizer an einem Schützenwettbewerb teil.

(Foto: Denis Balibouse/Reuters)

Das eigene Gewehr im Schrank gehört zum Selbstverständnis der Schweizer. Doch wenn sie weiter offene Grenzen wollen, müssen sie ihr Waffenrecht verschärfen. Darüber stimmt das Land am Sonntag ab.

Von Isabel Pfaff, Buchthalen

Das Mädchen liegt auf dem Bauch, Gehörschutz auf den Ohren, Ellbogen angewinkelt, Stiefelspitzen in die Matte gedrückt. Das Sturmgewehr vor ihr ruht auf einer Stütze. Es knallt, der Oberkörper zuckt kurz. Dann knallt es nochmal. Insgesamt 18 Schüsse gibt die 15-Jährige ab: Einzelfeuer, Kurzfeuer, Schnellfeuer. So sind die Regeln beim Feldschießen. An die 130 000 Teilnehmer machen jedes Jahr mit bei diesem schweizerischen Großereignis im Frühsommer, messen sich in ihren Schützenvereinen am Gewehr oder an der Pistole, am Ende wird landesweit verglichen.

Ein milder Mittwochabend im Mai am Rand von Schaffhausen. Die Rapsfelder leuchten, die Straßen winden sich sanft durch die Hügel. Ein paar Vögel sind zu hören, und dazwischen immer wieder: Schüsse. Beim Schießverein Buchthalen kann man heute Abend schon mal vorschießen, das eigentliche Feldschießen findet erst zehn Tage später statt. Im holzverkleideten Schützenhaus herrscht ein Kommen und Gehen, die 18 Schuss sind schnell abgefeuert, rasch kommen die Nächsten dran.

Rechts warten ein paar Jungs, nicht älter als 13, auf ihren Einsatz, sie kichern und fluchen, dank Gehörschutz ist alles einen Tick zu laut. Der Jungschützenleiter rügt sie mit einem scharfen Blick, er kniet noch neben dem 15-jährigen Mädchen, gibt leise Tipps. Am anderen Ende des Schießstands holt ein älterer Mann das Magazin aus seinem Sturmgewehr. Er hat seine 18 Schuss gerade abgegeben und macht sich, Gewehr über der Schulter, auf den Weg in die Schützenstube nebenan. Er sei 66, sagt er noch, und schieße seit 52 Jahren.

Viele Schweizer fühlen sich fremdbestimmt von der EU

Glaubt man den vielen Männern und wenigen Frauen an diesem Abend im Schützenhaus, könnte es so etwas wie das Feldschießen bald nicht mehr geben. Am Wochenende gehen die Schweizer wieder an die Urne, es ist der zweite von vier Abstimmungssonntagen im Jahr. Diesmal sollen die Stimmberechtigten über ein neues Waffenrecht befinden. Oder, wie es einige der Buchthaler Schützen formulieren: über die Entwaffnung der Schweiz.

2,3 Millionen

Schusswaffen in Privatbesitz soll es laut einer Schätzung des Genfer Forschungsprojekts "Small Arms Survey" in der Schweiz geben. Auf mindestens jeden vierten Schweizer kommt demnach eine Waffe. In Deutschland kommt nur auf jeden fünften Einwohner eine Waffe. Die Forscher schätzen die Schusswaffenzahl hierzulande auf knapp 16 Millionen. Den Spitzenplatz nehmen die USA ein, wo es mehr private Schusswaffen als Einwohner gibt.

Die Eidgenossenschaft ist ein Waffenland. In ihrer jüngsten Studie schätzt die Genfer Organisation Small Arms Survey die Zahl von Schusswaffen in Privatbesitz auf etwa 2,3 Millionen. Bei knapp 8,5 Millionen Einwohnern kommt also auf jeden vierten Schweizer eine Waffe - eine Dichte, mit der das Land auf Platz 16 weltweit rangiert. Laut einer Studie von 2007 sind in fast 29 Prozent der Schweizer Haushalte Schusswaffen zu finden. In den USA waren es zum Erhebungszeitpunkt gar nicht so viel mehr: knapp 43 Prozent.

Die schweizerische Waffenpassion hat viel mit dem politischen Selbstverständnis des Landes zu tun. Bewaffnete Neutralität - also: sich grundsätzlich raushalten, aber im Zweifelsfall in der Lage sein, sich zu verteidigen, das ist ein wichtiger Grundsatz eidgenössischer Politik. Entsprechend legt man Wert auf die Armee, auf die Wehrpflicht für alle männlichen Schweizer. Ein relativ großer Teil der Bevölkerung weiß mit Waffen umzugehen. Und: Schweizer Soldaten dürfen ihr Sturmgewehr nach dem Wehrdienst als Privatbesitz mit nach Hause nehmen.

Für alle anderen ist es dank des liberalen Waffenrechts relativ leicht, Pistolen oder Gewehre zu kaufen. Geschossen wird dann in einem der vielen Schießvereine: Mehrere Tausend gibt es in der Schweiz, mit acht Jahren kann man am Luftgewehr anfangen, mit 15 ist das Sturmgewehr dran.

"Das grenzt an ein Waffenverbot"

In Buchthalen ist das jüngste Vereinsmitglied zwölf Jahre alt, das älteste 92. Zwei der 58 Mitglieder sind Frauen. In der Schützenstube sitzen sie alle zusammen, es gibt Bier, Bratwurst und einen Stammtisch mit einer sauber herausgeschnitzten Zielscheibe in der Mitte. Eine Umfrage hier an den Tischen ergibt ein ziemlich eindeutiges Bild: Fast alle wollen am Sonntag mit Nein stimmen. Auch Patrick Messmer. Der schlanke 35-Jährige schießt, seit er elf Jahre alt ist. Er sagt: "Was da kommen soll, grenzt an ein Waffenverbot. Und alles nur wegen Problemen, die wir in der Schweiz gar nicht haben."

Tatsächlich will die Schweiz ihr Waffenrecht nicht aus freien Stücken ändern. Aber sie ist Mitglied im Schengen-Raum. Weil die EU ihr Waffenrecht 2017 als Reaktion auf die vielen Terroranschläge in europäischen Metropolen verschärft hat, muss die Schweiz nachziehen, wenn sie Schengen-Partner bleiben will - spätestens zwei Jahre später, also jetzt. Regierung und Parlament haben den Änderungen bereits zugestimmt.

Doch die Gegner der Reform - Schützenverbände, Jagdgesellschaften, Waffensammler - haben von ihrem direktdemokratischen Recht Gebrauch gemacht und Unterschriften für eine Volksabstimmung gesammelt. Seither streitet das Land über nichts Geringeres als die Schweizer Identität - und ob der Zugang zu Sturmgewehren dazuzählt oder nicht. Dabei dürfte sich für die Schweizer Sportschützen nur wenig ändern.

Im Kern geht es bei der Reform um drei Punkte: Erstens müssen künftig alle Bestandteile einer Waffe markiert werden. Zweitens soll der Austausch unter den Schengen-Staaten verbessert werden. Und drittens rutschen halbautomatische Waffen mit großen Magazinen - also auch das Sturmgewehr 90 der Armee, mit dem in den meisten Schützenvereinen geschossen wird - in die Kategorie der verbotenen Waffen, für die man eine Ausnahmebewilligung braucht. Allerdings: Die Schweiz hat sowohl für die direkt aus der Armee übernommenen Gewehre als auch für die Waffen der Sportschützen bereits Ausnahmen ausgehandelt.

Würde die EU die Schweiz rauswerfen?

Für regelmäßige Schützen wie Patrick Messmer also eigentlich kein Problem. Doch in der Buchthaler Schützenstube beruhigt das die wenigsten. Sie fühlen sich fremdbestimmt von der EU, befürchten, dass über den Schengen-Verbund bald die nächste Verschärfung kommt. "Wehret den Anfängen!", sagt einer der Älteren. Ein anderer spricht von dem "besonderen Vertrauen" zwischen Regierung und Bevölkerung in der Schweiz, das sich im liberalen Waffenrecht ausdrücke. "Eine Verschärfung bedroht dieses Verhältnis." Und Schengen? Die Buchthaler Schützen glauben nicht, dass die EU Ernst machen und die Schweiz rauswerfen würde. "Dazu hat Europa ein zu großes Interesse daran, dass wir Teil des Schengen-Raums bleiben."

Doch nicht allen Befürwortern des neuen Waffenrechts geht es um Schengen. "Weniger Waffen führen zu weniger Waffengewalt", sagen zum Beispiel die Sozialdemokraten. Sie verweisen auf die hohe Zahl von Schusswaffentoten in der Schweiz: zuletzt über 230 im Jahr, der Großteil Suizide. Misst man die Toten an der Gesamtbevölkerung, nimmt die Schweiz laut einer Recherche des Guardian aus dem Jahr 2012 in einem Ranking von Industriestaaten Platz zwei gleich hinter den USA ein. Die Schützen in Buchthalen beeindruckt das nicht. Suizide könne man nicht verhindern, sagen sie. Und: "Wir ticken anders als die Amerikaner."

Im Schießstand nebenan erhält man eine Ahnung davon. Wieder geht eine Runde Feldschießen zu Ende. "Schützen liegen bleiben und entladen", befiehlt eine Männerstimme durchs Mikro, "bitte warten auf Waffenkontrolle." Ein Mann klappert die Schützen auf dem Boden ab, prüft die Gewehre, nickt. Es geht starr nach den Regeln zu in dieser kargen Halle, von Gegröle oder Rumgeballere keine Spur. Es passt ins Bild, dass die letzte Schießerei in der Schweiz bald 20 Jahre lang zurückliegt.

Trotzdem sieht alles danach aus, dass das Ja-Lager am Sonntag gewinnen wird. Umfragen sehen die Befürworter der Reform bei mehr als 50 Prozent. Auch die Schützen in Buchthalen wissen das. Doch dann sagt einer einen sehr schweizerischen Satz, einen, den man sich unter Waffenfreunden anderswo nur schwer vorstellen kann: "Damit müssen wir dann leben."

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