Süddeutsche Zeitung

Schweiz: 40 Jahre Frauenstimmrecht:"Vermännlicht" durch den Urnengang

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Seit 40 Jahren dürfen auch die Schweizerinnen wählen. Heute ist die Hälfte der Bundesversammlung weiblich und "antifeministische" Männer kämpfen dagegen, benachteiligt zu werden.

Lilith Volkert

Die Schweizer waren sich des Risikos bewusst: Dürften Frauen wählen, würde sie das auf unschöne Weise "vermännlichen", warnten Experten. "Politischer Ehestreit" und "Familienhader" wären die Folge, hieß es noch Ende der sechziger Jahre.

Es waren aber nicht nur Männer, die den Schweizerinnen die politische Mündigkeit verweigern wollten. Auch Frauen wehrten sich gegen die mit dem Wahlrecht verbundene Verantwortung. "Müssen wir den Männern das auch noch abnehmen?", soll die Mutter des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg geklagt haben. Und der "Bund der Schweizerinnen gegen das Frauenstimmrecht" setzte sich seit 1959 dafür ein, dass alles so bleiben möge, wie es ist.

Ohne Erfolg: 1971 führte die Schweiz das Frauenwahlrecht auf Bundesebene ein - als vorletztes Land in Europa (in Liechtenstein wurde es 1984 eingeführt), und lange nach der Türkei, Afghanistan oder Haiti. 66 Prozent der stimmberechtigten Männer hatten sich am 7. Februar vor 40 Jahren in einer Volksabstimmung dafür ausgesprochen.

Heute stellen Frauen die Mehrheit im siebenköpfigen Bundesrat, der Eidgenössischen Regierung. Den Posten der Bundespräsidentin - ein jährlich wechselnder Posten, ein Staatsoberhaupt wie in Deutschland gibt es nicht - hat derzeit die Sozialdemokratin Micheline Calmy-Rey inne. Auf Landesebene sieht es anders aus: In den kantonalen Parlamenten ist höchstens ein Drittel der Abgeordneten weiblich.

Schweizer Feministinnen beklagen zudem, dass die meisten Spitzenpolitikerinnen entweder kinderlos oder im fortgeschrittenen Alter seien. Ihnen fehlten die Erfahrungen jener Frauen, die Familie und Berufstätigkeit vereinbaren wollten. Und eine schwangere Politikerin in einem Spitzenamt - wie die deutsche Familienministerin Kristina Schröder, die im Juli ein Kind bekommt - sei in der Schweiz undenkbar.

Dass ausgerechnet eine der ersten Demokratien so lange gebraucht hat, um ihren Bürgerinnen das Wahlrecht zu gewähren, liegt am politischen System der Schweiz: Fragen, die die Bundesverfassung betreffen, müssen vom Volk entschieden werden - in Fall des Frauenwahlrechts also von Männern. Obwohl laut Artikel 1 der Schweizer Bundesverfassung schon seit 1848 alle Schweizer vor dem Gesetz gleich sind, war das Wahlrecht in vielen Kantonen an Artikel 18 - "Jeder Schweizer ist wehrpflichtig" - geknüpft.

1959 wurde die Einführung des Frauenwahlrechts in einem ersten Referendum mit zwei Dritteln der Stimmen abgelehnt. Als die Schweiz in den sechziger Jahren die Menschenrechtskonvention des Europarats nur unter dem Vorbehalt unterschreiben wollte, dass die Gleichstellung der Geschlechter für sie nicht gelte, war der internationale Protest so groß, dass eine neue Abstimmung vorbereitet wurde. Diesmal hatte sie Erfolg.

"Antifeministen" begehren auf

Während Frauen heute in der Schweiz wie in den europäischen Nachbarländern für eine Frauenquote in der Wirtschaft, gleiche Bezahlung und eine bessere Kinderbetreuung streiten, wehrt sich eine neue Bewegung gegen die "Benachteiligung der Männer". Der 2010 gegründete "Verein Antifeministen" kritisiert das "destruktive Anspruchsverhalten" von Frauen und will Gleichstellungsbüros schließen lassen. Jüngst kündigte er an, die geheimen Adressen aller Schweizer Frauenhäuser im Internet zu veröffentlichen, da diese Frauen in Scheidungsverfahren Vorteile gegenüber ihren Männern verschaffen würden.

Dass das Frauenwahlrecht erst 1971 eingeführt wurde, liegt nach Meinung der Antifeministen am "vorbildlichen Verständnis des Zusammenhangs zwischen Rechten und Pflichten" in der Schweiz - schließlich dienten Frauen ja nicht in der Armee.

Bis wirklich alle Schweizerinnen wählen durften, vergingen nach der Volksabstimmung übrigens noch einmal 19 Jahre. Im Kanton Appenzell Innerrhoden sind Frauen erst seit November 1990 wahlberechtigt. Diesmal entschied nicht das Volk, sondern das Schweizer Bundesgericht - gegen den Willen der Stimmbürger.

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