Flüchtlinge:Notruf bei Mama

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Es ist überstanden: Geflohene aus dem Polizeistaat Eritrea kommen mit einem überfüllten Holzboot an der sizilianischen Mittelmeerküste an. (Foto: Jason Florio/AFP)

Wenn eritreische Flüchtlinge auf dem Mittelmeer in Gefahr geraten, wählen viele eine Handynummer in Schweden: die der Stockholmerin Meron Estefanos.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Meron Estefanos wohnt in einem Stockholmer Vorort, ein großer Wohnblock, dritter Stock. Sie öffnet die Tür mit dem Handy am Ohr, und winkt durch den Flur ins Wohnzimmer. "Sorry, ich muss da zurückrufen." Man hört es tuten, dann Stimmen. Estefanos setzt sich auf die Sofakante, greift sich einen Schmierzettel. Auf Tigrinya, der Sprache Eritreas, ruft sie einzelne Worte ins Telefon, laut und bestimmt. Sie notiert : 300 - 80 woman - 15 pregnant - 16 children - wooden - motor stopped - 2 days. Ans Ende der Liste schreibt sie zwei siebenstellige Zahlen, es sind Koordinaten.

Das Gespräch endet so abrupt, wie es begonnen hat. Estefanos schaut nicht von ihrem Zettel auf, als sie die nächste Nummer eintippt. Dieses Mal spricht sie Englisch: "Hi, my name is Meron Estefanos, I live in Sweden . . ."

Meron Estefanos (Foto: privat)

Sie weiß nicht, wie oft sie schon von Flüchtlingsbooten aus angerufen wurde. Allein in dieser Woche ist es das dritte Mal. Meron Estefanos lebt in Schweden, seitdem sie 14 ist, geflohen aus Eritrea, ihre beiden Söhne sind seither in Schweden zur Welt gekommen, das ist heute ihr Zuhause. Es sind Menschen aus der alten Heimat, die nun anrufen, in der Sprache der Eltern, und um Hilfe bitten. Meist gehen sie im libyschen Tripoli an Bord, immer hat irgendjemand Estefanos' Handynummer dabei. Wenn sie in Stockholm die 0088-Nummer eines Satellitentelefons auf ihrem Display sieht, weiß die 40-Jährige, dass sie schnell zurückrufen muss.

Estefanos ist zu einer Notrufzentrale für ein ganzes Land geworden

Estefanos ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Von Stockholm aus moderiert sie eine wöchentliche Sendung bei Radio Erena, einem Sender, der von Paris aus sendet und in Eritrea gehört wird. Ihre Handynummer gibt sie an ihre Hörer weiter. Und so ist sie zu einer Art Notrufzentrale für ein ganzes Land geworden.

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Jetzt spricht sie mit der italienischen Marine, liest ihre Notizen vor: 300 Eritreer sind vor zweieinhalb Tagen in einem Holzboot aufgebrochen. Der Motor hat nach sieben Stunden den Geist aufgegeben, seither treiben sie. Estefanos diskutiert mit dem Mann am anderen Ende. Er sei sehr schroff gewesen, sagt sie hinterher. Die Koordinaten lägen in libyschen Gewässern, da könne er nichts machen. Warum sie überhaupt anrufe. Der Bleistift in ihrer Hand zittert. "So haben sie noch nie reagiert, das ist doch eine Notfallnummer", sagt sie. "Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll." Dann twittert sie die Koordinaten, vielleicht sind ja die Ärzte ohne Grenzen mit einem Schiff in der Nähe.

Wenn die Italiener den Notruf nach Libyen weiterleiten, ist das schlecht für die Flüchtlinge. Aus Libyen sind sie gerade entkommen, sie hätten dort monatelang im Gefängnis gesessen, haben sie Estefanos erzählt. Deswegen will sie das Boot vorwarnen, wählt noch einmal die 0088-Nummer. Sie spricht lange, fast 15 Minuten. Als sie auf Lautsprecher stellt, schreien Menschen durcheinander, es rauscht und knackt. Der Wind auf See. Schwappendes Wasser. Estefanos sagt ihnen, sie sollen das GPS-Gerät neu starten, ihre Koordinaten überprüfen, den Schiffskompass finden, den Kapitän fragen. Doch der spricht nur Arabisch. Sie wiederholt ihre Anweisungen, wieder und wieder. Niemand scheint ihr zuzuhören. Auch die Menschen auf dem Boot sagen immer wieder dasselbe: Sie wollen nicht zurück.

"Sie denken, dass ich entscheide", sagt Estefanos und erinnert sich an den ersten Anruf vor ein paar Jahren. Der hat sie kalt erwischt. "Sie glauben, wenn sie am Telefon weinen, schicke ich schneller Hilfe." Deswegen geben sie oft Frauen den Hörer, oder Kindern: "Mama Meron, bitte hilf uns . . ." - so was bringe einen innerlich halb um, sagt Estefanos. Doch sie braucht die Koordinaten und oft bleibt wenig Zeit, weil Guthaben oder Akku zur Neige gehen. Also versucht sie den weinenden Müttern zu erklären, dass sie den Hörer weitergeben müssen. An jemanden, der "North" und "East" auf dem Kompass findet. Jemanden, der ihr zuhört und versteht, was Estefanos ihm erklärt. Schon das ist oft schwierig, weil alle in Panik sind. Auf dem Boot, das jetzt angerufen hat, sei schon einer verdurstet, haben sie gesagt.

Seit vielen Jahren ertrinken Eritreer auf der Flucht. Erst jetzt interessiere es die Europäer

Seit vielen Jahren ertrinken jeden Sommer Eritreer auf der Flucht. Doch erst seitdem sie im Mittelmeer ertrinken, in europäischem Zuständigkeitsbereich, interessiere das jemanden, sagt die Menschenrechtsaktivistin. Schweden habe eine großartige, humanitäre Politik. Doch Estefanos fragt, warum nur denen geholfen wird, die es nach Europa schaffen, die diese "Lotterie" gewinnen.

Für Sie begann alles 2011, als ein Mann aus Eritrea bei ihr anrief, weil sein Bruder auf der Flucht gekidnappt worden war. Er gab ihr die Nummer der Gefangenen. Die hatten ein Telefon, um ihre Verwandten um Lösegeld anzuflehen. Estefanos sprach von da an fast täglich mit ihnen, eritreische Flüchtlinge, die im Sinai festgehalten und gefoltert wurden. Sie verhandelte mit den Kidnappern, versuchte Hilfe zu organisieren und war erschrocken über das geringe internationale Interesse.

Rund um die Uhr rufen Hilfesuchende an

So bestimmt ihr weißes iPhone ihren Alltag. Letzte Nacht hat sie kaum geschlafen, weil ein traumatisierter Eritreer durch Stockholm irrte. Ein Passant griff ihn auf und rief Estefanos an, die ihm am Telefon gut zuredete und die Migrationsbehörde informierte. Dann ein Anruf aus Saudi-Arabien, einige Flüchtlinge sitzen dort in Haft und bitten um Hilfe. So geht das rund um die Uhr.

Normalerweise melden sich auch die Menschen von den Booten, wenn sie gerettet worden sind. Von dem Boot, für das sich der Italiener nicht zuständig gefühlt hatte, hat Estefanos auch Tage später noch nichts gehört. Vielleicht musste es doch zurück nach Libyen. Ein anderes Schiff, dem sie zwei Tage zuvor geholfen hatte, ist sicher in Italien angekommen. Einen der Passagiere kennt sie schon lange. Er war unter den Sinai-Gefangenen, kam frei, wurde nach Eritrea zurückgeschickt, flüchtete erneut, fiel in Libyen den IS-Terroristen in die Hände, entkam wieder. Nun will er über Frankfurt nach Schweden kommen. Estefanos wartet auf seinen Anruf.

© SZ vom 30.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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