Vier Schießereien gab es in der Nacht zum Sonntag in Stockholm, ein junger Mann starb. Auf der Liste der Erschossenen in Schwedens Hauptstadt war der Mann in diesem Jahr die Nummer 18. Dass junge Männer durch Schüsse sterben, sei "fast schon eine Pandemie geworden, unerträglich", kommentierte die Zeitung Aftonbladet und beklagte einen Effekt der Abstumpfung: "Wir haben uns an die Waffengewalt gewöhnt."
Das stimmt nur zum Teil. Tatsächlich finden die Einzelschicksale nicht mehr die Aufmerksamkeit wie früher. In der Politik aber hat die Bandenkriminalität ein Jahr vor den Parlamentswahlen längst wieder Corona als Topthema verdrängt. Verantwortlich für beides ist der massive Anstieg tödlicher Gewalt in den Vorstädten. Eine Studie von Schwedens nationaler Behörde für Verbrechensvorbeugung Brå hatte in diesem Frühjahr erst Schweden als das einzige Land Europas identifiziert, in dem die Anzahl tödlicher Schießereien in den letzten zwei Jahrzehnten signifikant angestiegen ist.
Die sozialdemokratische Regierung hangelt sich von Krise zu Krise, und die anderen Parteien haben mit Blick auf die Wahl im Herbst 2022 längst den Wahlkampf eingeläutet. Bürgerliche und Rechtspopulisten sehen die Kriminalität als offene Flanke der Sozialdemokraten. Ministerpräsident Stefan Löfven hatte versprochen, er werde Schweden wieder zu einem "sicheren Land für gesetzestreue Bürger" machen. In den Augen vieler Menschen hat er dieses Versprechen nicht gehalten, da hilft es ihm auch nicht, dass die Verbrechenszahlen als Ganzes für Schweden noch immer weit unter dem europäischen Durchschnitt liegen.
Ursache dafür sind Bandenkriege; es fallen Schüsse auf offener Straße, auch Unbeteiligte starben schon dabei: eine junge Mutter, die ihr Baby auf dem Arm hielt, ein zwölfjähriges Mädchen. Viele Schweden haben das Gefühl, die Gewalt rücke ihnen näher.
Wenn Stefan Löfven nun im November zurücktritt, dann will er seiner Partei auch einen Neuanfang in der Kriminalitätspolitik ermöglichen. Gleichzeitig geißelt Oppositionsführer Ulf Kristersson von den bürgerlichen Moderaten in einem Interview im Svenska Dagbladet diese Woche das vermeintliche Versagen der Regierung bei der Verbrechensbekämpfung.
Der Oppositionspolitiker verweist auf den "ethnischen Hintergrund" der Täter
"Dumm" nannte Kristersson die Aussage Löfvens, die Kürzung von Sozialleistungen durch frühere bürgerliche Regierungen sei mitverantwortlich für die wachsenden Spannungen in den Problemvierteln. Kristersson beklagte stattdessen die "Scheuklappen" in der Debatte: die rechten Parteien glauben schon lange, dass viel zu wenig über den ethnischen Hintergrund der Bandenviertel gesprochen werde, wo vor allem Bürger mit Migrationshintergrund zu Hause sind.
Das allerdings hat sich seit vergangener Woche geändert. Erneut war es die Behörde für Verbrechensvorbeugung Brå, die eine Studie vorlegte, die einschlug wie eine "politische Bombe", so die Zeitung Dagens Nyheter. Die eine Seite nannte den Brå-Bericht ein "Zeugnis der gescheiterten Integration in Schweden", die andere fürchtete eine "Steilvorlage für Fremdenfeindlichkeit". Brå-Sprecher David Shannon erklärte, man wolle zu dem "politisch aufgeladenen Thema" lediglich die Faktenbasis liefern.
Basierend auf einem Untersuchungszeitraum von 2015 bis 2018 kommt die Studie zu folgenden Schlussfolgerungen: Im Ausland geborene Personen tauchen zweieinhalbmal so häufig in der Verbrechensstatistik auf wie in Schweden geborene Kinder von Eltern schwedischer Nationalität. Bei Einwandererkindern der zweiten Generation - also in Schweden geborene Kinder von im Ausland geborenen Eltern - ist die Zahl sogar noch höher: Sie werden mehr als dreimal so häufig als Straftäter registriert.
Eigentlich präzisierte die Studie nur das längst Vermutete mit Zahlen, entflammte aber gerade dadurch die schwelende Debatte. Vor allem die Frage nach dem Warum spaltet nun die politischen Lager. Kritiker bemängelten vor allem, dass die Brå-Studie der Frage nach Erklärungen ausweicht und so all jenen eine Vorlage sein könnte, die bestimmten Ethnien und Kulturen eine generelle Unvereinbarkeit mit dem westlichen Rechtssystem unterstellen.
Moderate sprechen von verfehlter Integrationspolitik
Auch Justizminister Morgan Johansson sah die Gefahr, dass Rassisten sich in Zukunft auf die Studie berufen könnten: "Jeder sollte nach seinem Handeln beurteilt werden, nicht nach seiner Herkunft", sagt er, und wies darauf hin, dass Einwanderer nicht nur in der Kriminalstatistik überrepräsentiert seien, sondern auch in den Pflegeberufen. Generell wiesen Vertreter des liberalen und linken Lagers auf die sozioökonomische Benachteiligung von Gruppen mit Migrationshintergrund hin: Die Jugendlichen in den betroffenen Vierteln wüchsen in größerer Armut auf, besuchten schlechtere Schulen, hätten kaum Chancen auf gute Jobs und würden allein aufgrund ihres Aussehens öfter von der Polizei kontrolliert.
Die Moderaten wiederum machen eine allzu große Zuwanderung und verfehlte Integrationspolitik verantwortlich. Und die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) verkündeten am Tag der Vorstellung des Berichtes triumphierend, sie hätten es ja schon immer gesagt: Die Einwanderung bringe die Kriminalität nach Schweden. Das habe "mit kulturellen Unterschieden" zu tun, sagte der rechtspolitische Sprecher der SD, Adam Marttinen, und verwies unter anderem auf Sexualdelikte: Frauen würden einfach nicht so respektiert in Einwandererkulturen. Nur wenige Stunden nach diesen Äußerungen nahm die Polizei allerdings einen nicht benannten "hochrangigen" SD-Funktionär wegen "Missbrauchs" und Körperverletzung zweier Frauen in seiner Wohnung in Stockholm fest.
Nun streiten die Lager über die richtige Antwort. Die Moderaten wollen der Polizei dieselben Instrumente in die Hand geben wie im Kampf gegen den Terrorismus. Auch die Sozialdemokraten wollen nicht mehr allein auf sozialpolitische Maßnahmen setzen, ebenfalls vergangene Woche stellten sie Pläne für eine härtere Bestrafung vor. Bestraft werden sollen unter anderem erstmals Bandenführer, die noch nicht strafmündige Kinder einsetzen für Kurierdienste oder Drogenhandel.
Illusionen macht sich keiner. Auch Oppositionsführer Ulf Kristersson nicht. "Mindestens zwanzig Jahre", antwortete er auf die Frage, wie lange es dauern werde, bis eine von ihm geführte Regierung das Problem lösen könne.