Schweden:Bloß nicht 18 werden

Grenzkontrollen in Schweden

Schweden, das einst stolz auf seine liberale Asylpolitik war, leitete Ende 2015 eine radikale Kehrtwende ein: An den Grenzen wird jetzt streng kontrolliert, das Alter von angeblich minderjährigen Flüchtlingen wird nun verschärft überprüft.

(Foto: Asger Ladefoged/dpa)

Wenn schwedische Behörden minderjährige Flüchtlinge für volljährig erklären, verschlechtert sich deren Status massiv. Viele haben Angst.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Auf die Selbstmord-Diskussion ist sie über Facebook gestoßen. Dort hatten sich junge Afghanen aus einer Schwedisch-Lerngruppe verlinkt. Über die ist Sara Edvardson Ehrnborg, die als Lehrerin mit Flüchtlingskindern arbeitet, irgendwie in diesen Chat geraten. "Ich bin der Nächste", stand dort. Und: "Ich suche jemanden, der es mit mir zusammen tut." Jugendliche Flüchtlinge diskutierten in einem Mix aus Schwedisch, Englisch und Farsi darüber, sich umzubringen.

Sara Edvardson Ehrnborg gehört zu einem Netzwerk aus etwa 200 Lehrern, Sozialarbeitern, Psychologen und Schulkrankenschwestern, die sich um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Schweden kümmern. Sie haben den Kinder-Ombudsmann der Regierung über die Suizidgespräche informiert. Die Drohungen seien "sehr besorgniserregend", sagt die Juristin Maj Fagerlund aus dessen Team. Wie viele der jungen Flüchtlinge Ernst machen, weiß niemand - eine Statistik gibt es nicht.

35 000 minderjährige Flüchtlinge kamen 2015 nach Schweden. Hier erhofften sie sich die meiste Hilfe

Unbestritten ist, dass Flüchtlingskinder in Schweden oft nicht ausreichend oder erst spät Hilfe bekommen. 600 von ihnen, darunter unbegleitete Minderjährige, hat das Team von Ombudsmann Fredrik Malmberg interviewt. "Viele fühlen sich furchtbar schlecht", ein Problem seien "große Mängel in der Pflegekette", so Malmberg. Nun kritisiert er den Asylprozess, der Kindern große Angst mache. Sie trauten sich nicht, offen über das zu reden, was sie hinter sich haben. Zudem müssten sie zu lange auf die Entscheidung warten.

Jeder dritte unbegleitete Minderjährige, der 2015 nach Europa kam, ist bis nach Schweden gereist - insgesamt 35 000 Jugendliche, nach Deutschland kamen zur gleichen Zeit etwa 22 000. Von Schweden erhofften sie sich die meiste Hilfe, doch im Herbst 2015 beschloss die Regierung eine Kehrtwende in der Asylpolitik. Sie führte Alterstests und Grenzkontrollen ein, schränkte Bleiberecht und Familiennachzug ein. 2016 kamen nur noch 2200 unbegleitete Kinder, doch bei den Behörden stapeln sich bis heute die Anträge.

Alif etwa erreichte Schweden im Herbst 2015. Er war damals 16 Jahre alt, sagt er, und alleine unterwegs. Er kam in ein Heim für unbegleitete Jugendliche, das rund um die Uhr betreut ist. Lovisa Göransdotter wurde sein Vormund, sie half beim Asylantrag, bei Geldfragen, in der Schule. Alles war gut, bis die Einwanderungsbehörde im Mai 2016 beschloss, dass Alif nun volljährig sei. Und dass er zurückmüsse nach Afghanistan.

Lovisa Göransdotter begleitete Alif in das Übergangsheim, in das er nun sollte. Ein heruntergekommenes Hotel, schmutzig, überfüllt, mit Wasserschäden, sagt sie. Alif sollte sich ein Zimmer mit drei Männern teilen, keine Lampe am Bett, kein Tisch für die Hausaufgaben. "Ich konnte nicht glauben, dass das Schweden war", sagt Göransdotter. Sie nahm Alif wieder mit. Er wohnt bei ihr und ihren Töchtern, bis über die Ausweisung entschieden ist.

"Der Übergang von der Kinderbetreuung zum Erwachsenen ist zu hart", sagt Ola Mattsson von Save the Children. "Jemand hat Geburtstag und muss über Nacht tausend Kilometer weit in ein anderes Heim ohne Betreuung ziehen." Seine Organisation hat 2015 eine Notrufnummer für junge Flüchtlinge eingerichtet. Seit Anfang 2017 schießt die Zahl der Anrufe in die Höhe. "Die Situation wird immer dramatischer."

Die Jugendlichen fürchten den Alterstest und natürlich die Ausweisung, vor allem, wenn sie aus Afghanistan kommen. Von den 12 200 Afghanen, über deren Asylanträge Schweden vergangenes Jahr entschieden hat, wurde mehr als jeder dritte abgelehnt - darunter 616 unbegleitete Minderjährige. Bei ihnen müssen die Behörden sicherstellen, dass sie jemanden haben, zu dem sie zurückkehren können. Volljährige auszuweisen ist einfacher.

Wem die Behörde nicht glaubt, dass er minderjährig ist, der hat das Recht auf einen medizinischen Test, konnte bisher etwa Handgelenk und Weisheitszähne röntgen lassen. Diese umstrittenen Tests mussten die Flüchtlinge selbst organisieren, nicht jeder Arzt war dazu bereit. Oft haben Sachbearbeiter das Alter dann geschätzt.

2016 hat die Migrationsbehörde so das Alter von 14 000 angeblich Minderjährigen auf die eine oder andere Weise bewertet, 3500 von ihnen für volljährig erklärt. "Sie verlieren dadurch alles, ihre Betreuer, ihre Kontakte, sie können nicht weiter in ihre Schule gehen", sagt Lehrerin Sara Edvardson Ehrnborg. Sie glaubt, dass auch ein 18-Jähriger noch Hilfe braucht. "Viele sind traumatisiert. Die Einwanderungsbehörde hat nicht genug Profis, um mit dem Problem umzugehen." Zumindest der Alterstest läuft in Schweden seit diesem Monat nach einem neuem System und unter Regie des Amts für Rechtsmedizin. Wer nicht offensichtlich ein Kind ist, bei dem werden nun das Kniegelenk untersucht und die Weisheitszähne geröntgt. Die Kosten übernimmt die Regierung. Wie viele Tests nötig werden, ist nicht bekannt. Im Februar jedenfalls gab es noch 18 500 offene Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger.

Alif hat bisher vergeblich gegen die Ablehnung protestiert. Nun hofft sein früherer Vormund Lovisa Göransdotter, dass die Regierung die Lage in Afghanistan neu bewertet und er erst mal nicht zurückmuss. "Ich weiß nicht, was wir tun, wenn die Entscheidung gegen ihn ausfällt", sagt sie. Ihr Vertrauen in Behörden und Politiker habe sie vollends verloren.

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