Süddeutsche Zeitung

Proteste nach Ferguson:Der lange Weg zu mehr Gerechtigkeit

"Hands up, don't shoot": Am Tag nach der Ferguson-Entscheidung gehen viele Afro-Amerikaner empört auf die Straße - sie wollen eine neue Bürgerrechtsbewegung starten. Auf Obama hoffen die jungen, schwarzen Aktivisten nicht.

Von Matthias Kolb, Washington

Die Slogans auf den Protestplakaten sind unverändert. "Gerechtigkeit für Mike Brown" steht in schwarzen Buchstaben auf grellgelbem Grund, ein anderes Schild hält fest: "Darren Wilson hat Mike Brown ermordet". Für die 1000 Demonstranten in der US-Hauptstadt Washington bleibt der weiße Polizist, der den schwarzen Teenager Anfang August mit sechs Schüssen getötet hat, der Schuldige. Dass Wilson nicht angeklagt wird und im TV-Interview sagt, dass er seinen Job "richtig gemacht" habe, erzürnt die Menschen.

In vielen Städten Amerikas haben sich Schwarze, Latinos und Weiße am Abend nach der Entscheidung der Grand Jury versammelt, um an Mike Brown zu erinnern. Auf einer Internet-Seite, die Aktivisten in Ferguson pflegen, werden Treffpunkte für Portland, Chicago oder Philadelphia gesammelt und über soziale Netzwerke verbreitet. In New York protestieren Hunderte auf dem Times Square und fordern "Schickt den rassistischen Polizisten ins Gefängnis", in Los Angeles werden drei Menschen festgenommen. Im kalifornischen Oakland blockieren Demonstranten zeitweise einen Highway. In Ferguson selbst bleibt es in der Nacht angespannt ruhig. Vor der Polizeistation singen Demonstranten: "Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen."

Zurück in Washington. Hier sind es überwiegend junge Leute, die dem Aufruf von #DCFerguson folgen. Viele sind schwarz. Aber auch Weiße solidarisieren sich, darunter die 53-jährige Jane. "Black lives matter" steht auf den Schildern. Oder: "Es ist richtig, ein Rebell zu sein". Sprechchöre skandieren "Hands up, don't shoot". Jane ruft: "Ich bin entsetzt über die Gewalt in meinem Land."

Mangelndes Vertrauen in Rechtssystem

"Das Justizsystem ist einfach gegen uns Schwarze", sagt Patrick, ein Student der Howard University. Sein Cousin sei elf Jahre alt und habe keine Lust mehr, mit seinem neuen Fahrrad durch Southeast Washington zu fahren: "Die Polizei ist überzeugt, dass er es gestohlen haben muss und hält ihn jedes Mal an."

Einer der Aktivisten ist Eugene Puryear. Er bezeichnet sich selbst als Sozialist und hat ein Buch über Amerikas Gefängnisindustrie geschrieben. Stolz ruft er: "Wir sind eine neue Bewegung und kämpfen jetzt jeden Tag dafür, dass wir jungen Schwarzen nicht länger ignoriert werden." Der Druck auf die Politiker müsse konstant bleiben, damit sich etwas ändere. Wer sich nicht bei einer der anwesenden Organisationen engagieren wolle, der solle seine eigene gründen, ruft er.

Ein halbes Dutzend Organisationen bedeutet mindestens so viele Redner. Sie streifen viele Themen: Eine Aktivistin kritisiert die Gentrifizierung Washingtons, wodurch Afroamerikaner aus der Stadt gedrängt werden. Eine junge Mutter berichtet von ihrer Reise nach Ferguson ("drei Tage Tränengas") und von der Sorge um ihre Kinder: "Wehe, wenn ein Polizist sie anrührt."

Immer wieder fällt das Megafon aus, wie bei den Occupy-Protesten ruft die Menge dann in kurzen Satz-Bausteinen, was der Redner gesagt hat. Zwischendurch ergreift wieder Eugene Puryear das Wort und redet sich in Fahrt: "In Amerika gibt es einen Polizeiterrorismus, gegen den niemand etwas tut."

Er zitiert eine Zahl, die in diesen Tagen oft genannt wird: Angeblich wird alle 28 Stunden ein unbewaffneter Schwarzer in den USA von einem Polizisten oder Sicherheitsbeamten erschossen. Eine offizielle Statistik, die dies belegt, gibt es nicht (mehr bei den Recherche-Profis von Politifact), aber Puryear und seine Mitstreiter haben den ganzen Tag Protestaktionen organisiert und diese bei Twitter unter #28hoursformikebrown beworben.

Vor dem Gebäude der Polizeibeschwerde-Stelle im Zentrum von Washington liegen die Aktivisten am Mittag viereinhalb Minuten auf dem Gehsteig. Es ist eine Anspielung darauf, dass Michael Browns Leiche viereinhalb Stunden auf der Straße lag.

Auch vor dem Polizeihauptquartier und dem Büro der neuen Bürgermeisterin hätten sie protestiert, berichtet Dominique Hazzard. Die Beamten sollen künftig transparenter arbeiten und die Bürger bei der Überprüfung kritischer Fälle von Polizeigewalt beteiligt werden. Die junge Frau engagiert sich beim "Black Youth Project 100" und ist überzeugt, dass hier gerade eine neue Bürgerrechtsbewegung entsteht: "Jede Generation hat ihren besonderen Moment und für uns junge Schwarze zwischen 20 und 30 ist dieser Augenblick gekommen."

Mit 48 Jahren ist Michael Fauntroy doppelt so alt wie Dominique Hazzard, was auch seine skeptische Haltung erklären dürfte. Fauntroy ist Politik-Professor von der Howard-University in Washington, einer traditionsreichen Hochschule für Afroamerikaner. "Ich sehe nicht, dass hier etwas wirklich Neues entsteht. Social Media ist sehr gut, um seine Trauer auszudrücken und anderen mitzuteilen", sagt er zu Süddeutsche.de. Das Entsetzen sei auch nach den tödlichen Schüssen auf Trayvon Martin und Oscar Grant groß gewesen, doch die Polizeigewalt und die drakonischen Gefängnisstrafen für Minderheiten seien gleich geblieben.

Fauntroy ist überzeugt, dass sich erst etwas ändern werde, wenn die Schwarzen ihre Wut in den politischen Prozess einbringen: "Sie müssen an der Wahlurne für Kandidaten stimmen, die ihnen helfen." Doch leider fehle es hier an guter Lobby-Arbeit, Ausdauer und auch an Vertrauen in das politische System. Schon bei seinen Studenten stellt der Politologe große Ernüchterung fest: "Sie sind erst 18 oder 19 Jahre alt, aber sie stehen der Politik sehr zynisch gegenüber. Sie haben das Gefühl, dass ihre Stimme nichts bewirkt und deswegen engagieren sie sich nicht."

Daran ändere auch die Tatsache nichts, dass mit Barack Obama ein Afroamerikaner im Weißen Haus sitze, so Faurtnoy. Der US-Präsident verurteilte zwar die Ausschreitungen der Nacht, doch zugleich zeigte er Verständnis dafür, dass viele schwarze Amerikaner das Gefühl hätten, dass Gesetze "nicht immer einheitlich oder gerecht" angewandt würden. Alles in allem äußerte sich Obama - wie in seiner gestrigen Rede nach der Entscheidung in Missouri - aber sehr zurückhaltend.

Marsch durch Washington - und vor das Weiße Haus

Auch Dominique Hazzard und die anderen Aktivisten haben wenig Hoffnung, dass Obama irgendwann die deutlichen Worte aussprechen wird, die sie sich wünschen: "Schwarze werden in diesem Land jeden Tag ungerecht behandelt." Sie wollen sich - ähnlich wie zahlreiche junge Schwarze in Ferguson - dafür engagieren, dass die Debatte über den Amerikas Alltagsrassismus und die Polizeigewalt nach dem Tod von Mike Brown nicht wieder abebbt.

An diesem Abend marschieren die 1000 Demonstranten in Washington mehr als drei Stunden durch die Innenstadt. Zum Abschluss singen sie in Chinatown gemeinsam das Protestlied "We shall overcome" - "Wir werden es überwinden". Es ist der Schlüsselsong der US-Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Musikalisch ist die Verbindung zu den großen Vorbildern also schon mal gelungen.

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