Süddeutsche Zeitung

Debatte um Zuwanderung:Merkels bunte Truppe - ganz schön viel Multi-Kulti

Merkel und Seehofer haben Multi-Kulti für tot erklärt - dabei gedeihen gerade in den Regierungsreihen viele Kulturen prächtig nebeneinander.

M. König

Es war verdächtig ruhig geworden rund um "Gurkentruppe" und "Wildsau". Egal, ob Gesundheitsreform, Energiekonzept oder Abschaffung der Wehrpflicht - die schwarz-gelbe Koalition spult ohne große Missklänge ihr Programm herunter. Sie hatte sich ja reichlich Zeit gelassen mit dem Regieren, doch der von Kanzlerin Angela Merkel ausgerufene "Herbst voller Entscheidungen" ließ sich relativ gut an.

Bis Thilo Sarrazin kam und Horst Seehofer inspirierte.

In der Debatte um die Zuwanderung wird deutlich, dass sich Schwarz und Gelb längst nicht so einig sind wie zuletzt gerne behauptet wurde. Innerhalb der Union schwelt der Streit um die Frage, wie konservativ die Konservativen noch sind - und die FDP schießt aus Wirtschaftsinteresse quer. Es handelt sich um eine bunte Multi-Kulti-Gruppe mit einem großen Spektrum an Ansichten. Die Union und die FDP, auf der Suche nach ihrer Leitkultur.

Zwar ist die Lautstärke im Vergleich zu den ersten Regierungstagen, in denen ein "Neustart" den anderen ablöste, noch gemäßigt. Doch schon wirft FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle dem bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Seehofer "Stimmungsmache" vor, und FDP-Generalsekretär Christian Lindner wiederum stellt Seehofers Äußerungen als Stammtischparolen dar. Auch in der Union selbst sind die Ansichten des Bayern heftig umstritten.

Ist Multi-Kulti wirklich tot, wie Merkel und Seehofer sagen? Oder ist das ein bisschen viel Mutti-Kulti? Die Regierung macht eher den Eindruck, als wolle sie selbst das Gegenteil beweisen. In der Zuwanderungsfrage leben Populisten, Pragmatiker und Progressive gemeinsam unter dem schwarz-gelben Dach - wenn auch nicht immer friedlich.

Eine Typologie der schwarz-gelben Multikulti-Mannschaft.

Der Populismus hat keinen allzu guten Ruf, in der Definition des Fremdwörterbuchs tauchen die Wörter "Opportunismus" und "Demagogie" auf. Das Attribut "volksnah" steht dort aber auch, und genau so sehen sich Populisten selbst: Als Volksversteher, als Politiker, die "die Ängste der Menschen ernst nehmen", wie es CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt ausgedrückt hat.

Qua Funktion ist Dobrindt ein Populist, der seinem Chef ein paar Dezibel Unterstützung zuteil lassen will. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hatte beim Deutschlandtag der Jungen Union gesagt: "Wir wollen nicht zum Sozialamt für die ganze Welt werden". Deutschland sei kein Einwanderungsland, ein Aufweichen des restriktiven Zuwanderungsgesetzes dürfe es nicht geben. Die Union trete für die "deutsche Leitkultur" ein.

Dass jene Leitkultur nicht klar definiert ist, dass einige darunter die Treue zum Grundgesetz, andere das Tragen von Lederhosen verstehen, lässt Seehofer nicht gelten. Auch die Tatsache, dass es in Deutschland derzeit ohnehin mehr Aus- als Einwanderer gibt, stört den Bayern nicht.

Das hat er mit anderen Volksverstehern gemein: Philipp Mißfelder zum Beispiel, Vorsitzender der Jungen Union, sagte, Deutschland könne es sich "nicht mehr leisten, weitere Zuwanderung in unsere sozialen Sicherungssysteme zu bekommen." Er will potentielle Zuwanderer auf ihr "soziales Verhalten" hin überprüfen lassen.

Mißfelder hat eine gewisse Erfahrung mit Populismus, seit er höhere Hartz-IV-Sätze mit dem Argument abgelehnt hat, davon würde in erster Linie die Tabak- und Alkoholindustrie profitieren. Auch sein Parteifreund Wolfgang Bosbach, der ewige Innenpolitik-Experte der CDU, ist auf diesem Feld ein alter Hase: Bosbach kommt immer dann zu Wort, wenn es um Verschärfungen geht. In der Integrationsfrage kündigte er ein härteres Durchgreifen gegen "Integrationsverweigerer" an. Ein "lückenloser Datenaustausch zwischen Arbeitsagenturen und Ausländerbehörden" solle sicherstellen, dass Migranten an Integrationskursen teilnehmen.

Relativ unbefleckt auf diesem Gebiet ist hingegen die Familienministerin Kristina Schröder (CDU), die sich einen Platz unter den Populisten verdiente, als sie "Deutschenfeindlichkeit" im eigenen Land anprangerte. Sie selbst sei schon mehrmals als "deutsche Schlampe" beschimpft worden. Dieses Thema dürfe man nicht den Rechtspopulisten überlassen, mahnte Schröder. So wie Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus sei auch "Deutschenfeindlichkeit" Rassismus und müsse "mit aller Härte bekämpft werden".

Dass Deutschsein keine Rasse, sondern eine Nationalität ist - geschenkt. Derlei Spitzfindigkeiten überlassen die Populisten gerne dem zweiten Kulturkreis innerhalb der schwarz-gelben Regierung: den Pragmatikern.

Der pragmatische Typus des schwarz-gelben Politikers besticht durch Flexibilität: Er ordnet seine Haltung dem Wohl des Landes unter. Oder dem Wohl der Partei. Oder der eigenen Machterhaltung. Im besten Fall ist seine Position zu allem kompatibel.

Angela Merkel hat am Wochenende wieder gezeigt, wie das geht: "Der Ansatz für Multi-Kulti ist gescheitert", sagte die Bundeskanzlerin - der konservative Flügel ihrer Partei wird es gerne gehört haben. Gleichsam erinnerte sie an die Aussage von Bundespräsident Christian Wulff, wonach der Islam zu Deutschland gehöre - das war Balsam für die Reformerseele.

Die Kanzlerin nannte den Fußball-Nationalspieler Mesut Özil als gelungenes Beispiel für Integration - den hatte sie ja nach dem 3:0 gegen die Türkei in der Umkleidekabine besucht und ließ den Händedruck ablichten, auch wenn Özil obenherum unbekleidet war. Auf Özil als Vorbild kann sich eine breite Mehrheit in Deutschland einigen, auch wenn der Kicker von Real Madrid derzeit ein Beispiel für Abwandern ist. Schließlich sagte die Frau von Real Deutschland, das "Fordern" sei in der Vergangenheit zu kurz gekommen - damit beruhigte sie die "Ja-aber"-Fraktion, die zwar für Zuwanderung ist, sich jedoch strengere Regeln wünscht.

Auch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle ist Pragmatiker: Er schoss zwar gegen Seehofer, warf ihm Stimmungsmache vor. Doch ist auch der FDP-Politiker kein Wohltäter, der armen Seelen in Deutschland eine neue Heimat bieten will. Wie es sich für einen Wirtschaftsminister gehört, geht es Brüderle um die Behebung des Fachkräftemangels: "Wir müssen unsere Leute, die wir haben, die Arbeitslosen, einbeziehen, wo immer es geht. Aber das wird nicht reichen", sagte Brüderle und schlussfolgerte: "Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung mit einem Punktesystem etwa wie Kanada."

Schon heute fehlten in Deutschland 36.000 Ingenieure und 65.000 IT-Fachleute, mahnte Brüderle - und stieß ins selbe Horn wie CDU-Bildungsministerin Annette Schavan, die das Problem pragmatisch angeht: mit einem Gesetzentwurf.

Schavan will jedem Einwanderer das Recht zugestehen, seine Qualifikationen in Deutschland bewerten zu lassen. Bislang werden ausländische Studienabschlüsse hierzulande oft nicht anerkannt - so kommt es vor, dass Spitzen-Physiker Jobs als Reinigungskräfte annehmen müssen. Das will Schavan ändern - und verspricht der deutschen Wirtschaft 300.000 neue Fachkräfte, vor allem in Natur- und Ingenieurswissenschaften, Pflegeberufen und in der Medizin.

Pragmatisch ist es aber auch, einen Kompromiss zu finden - zwischen (Islam-)Kritik und betonter Offenheit etwa. Diese Methode empfiehlt sich bei Politikern, die entweder in Bedrängnis sind und um ihren Machterhalt fürchten (siehe Merkel). Oder bei Politikern, die ihren Karrierehöhepunkt noch vor sich wähnen.

Zu letzteren gehört offenbar der CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der von diversen Medien zum legitimen Merkel-Nachfolger hochgeschrieben wird, weil seine Beliebtheitswerte jenen des jungen Eisbären Knut recht nahe kommen.

Guttenberg mahnt in der Zuwanderer-Frage eine Besinnung auf die christlich-jüdischen Wurzeln des Abendlandes an. Die Betonung anderer Kulturen dürften "niemals zur Relativierung der eigenen führen". Gleichsam sei aber "keine Abgrenzung nötig, sondern die Vermeidung eigener Kulturvergessenheit". Merke: Wer sich so verquast ausdrückt, dem kann keiner etwas Böses.

Das hat auch FDP-Außenminister Guido Westerwelle verstanden, dem vor gar nicht langer Zeit - Stichwort "spätrömische Dekadenz" - sehr viele Menschen etwas Böses wollten. Nun hat Westerwelle aber einen Erfolg vorzuweisen, Deutschland hat einen nicht-ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat ergattert. Das soll nicht von der hässlichen Ausländerfragen überlagert werden, weshalb auch Westerwelle laviert.

Es gebe Schwierigkeiten bei der Integration, "die wir nicht leugnen dürfen", sagte der FDP-Parteichef. Deutschland habe das Recht zu fragen, "welchen Beitrag Einwanderer leisten wollen, damit nicht nur sie, sondern das ganze Land einen Gewinn davon haben." Nicht einmal der schärfste Westerwelle-Kritiker wird da widersprechen wollen.

Wesentlich angreifbarer ist da schon der dritte Typus der schwarz-gelben Multi-Kulti-Mannschaft: Die Progressiven.

Die Progressiven sind mindestens so umstritten wie die Populisten, denn sie vertreten oft eine nicht minder klare Linie. Die allerdings nicht unbedingt mit dem Massengeschmack kompatibel sein muss, sondern ihm auch widerstreben kann. In einer Regierungskoalition, die in Umfragen deutlich hinter dem rot-grünen Konkurrenzprodukt liegt, kann das auf Ärger stoßen.

So geschehen bei Bundespräsident Christian Wulff, der in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit betonte, der Islam gehöre zu Deutschland. Selbstverständlich sei er der Präsident aller Deutschen, auch der Muslime, sagte der von Merkel erkorene Ex-Ministerpräsident Niedersachsens. So positiv das Echo bei Migranten und in der islamischen Welt war, so verschnupft reagierten Teile der Union. Darunter waren nicht wenige, die zuvor eine klare Positionierung des zuvor blassen Präsidenten gefordert hatten.

Auch Ursula von der Leyen darf als progressive Politikerin gelten, weil sie ihrer Linie treu blieb. Das hat sie in der Vergangenheit oft in Bedrängnis gebracht, etwa als sie sich dazu verstieg, Kinderpornografie im Internet durch Netzsperren stoppen zu wollen. Und auch diesmal beschwört die Arbeitsministerin Ärger herauf, wenn sie sagt: "Seit einigen Jahren verlassen mehr Leute unser Land, als neu hereinkommen. Wir müssen, wo immer es geht, die Eintrittschwellen senken für die, die das Land nach vorne bringen."

Bei so einer Aussage - "Eintrittsschwellen senken" - bekommen Populisten wie Seehofer oder Bosbach Bluthochdruck. Anderen ist sie vermutlich zu eindeutig. Zumal die CDU-Ministerin auch dem von vielen Pragmatikern bevorzugten Punktesystem nach kanadischem Vorbild eine Absage erteilt hat: "Ich glaube nicht an ein Patentrezept", sagte sie.

Gegen "Pauschalurteile" wehrt sich auch Christian Lindner. Was eine kleine Überraschung ist, denn als FDP-Generalsekretär müsste er qua Beruf in der Kategorie der Populisten auftauchen (siehe Dobrindt). Doch Lindner gilt nicht erst seit gestern als einer, der es in seiner Partei weit bringen möchte.

Und in Zeiten, in denen FDP-Bashing zur Mode geworden ist (Stichwort: Hoteliersteuer), macht es durchaus etwas her, wenn Lindner klassisch-liberale Positionen vertritt: Entscheidend für die Zuwanderung seien nicht das religiöse Glaubensbekenntnis oder die private Lebensführung, sagt Lindner - sondern die Akzeptanz der Rechtsordnung in Deutschland und die Bereitschaft zur Integration in Wirtschaft und Gesellschaft.

Damit liegt der FDP-General auf gleicher Linie wie seine Parteifreundin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich gegen eine "populistische Debatte über einen Zuwanderungsstopp" aussprach. Deutschland sei angesichts der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels langfristig auf Zuwanderung angewiesen, mahnt die Justizministerin, die sich gerne als Gralshüterin liberaler Werte präsentiert.

Progressiv, aber derzeit mit anderen Dingen beschäftigt, ist auch CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble, der im Krankenhaus eine hartnäckige Erkrankung auskuriert. Zur aktuellen Zuwanderer-Frage hat sich Schäuble nicht geäußert. Vor vier Jahren jedoch - Wulff war noch weit davon entfernt, als Präsident den Islam in einer Rede zu erwähnen - äußerte er sich zu eben jener Debatte.

Damals sagte Schäuble: "Es leben drei Millionen Muslime in Deutschland, die Teil der deutschen Gegenwart und Zukunft sind, so wie der Islam ja auch ein Teil Europas ist. Das müssen und wollen wir zur Kenntnis nehmen." Empörte Reaktionen zu jener Zeit? Fehlanzeige. Aber da war Thilo Sarrazin auch noch Finanzsenator in Berlin.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1013183
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/woja
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.