Süddeutsche Zeitung

Schulschließungen:"Wir haben mindestens Teilsiege für die Rechte der Kinder errungen"

Gegner von Schulschließungen können dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch Gutes abgewinnen. Denn die Karlsruher Richter drehen eine kühne Argumentationsschleife.

Von Paul Munzinger

Die Infektionszahlen sind hoch, der Ruf nach einschneidenden Maßnahmen wird immer lauter - und die meisten Schulen sind offen. In dieser Lage hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag eine Entscheidung verkündet, die auf den ersten Blick glasklar und potenziell folgenreich wirkt. Die Karlsruher Richter erklärten die Schulschließungen im Frühjahr, die auf der sogenannten Bundesnotbremse basierten, für rechtens. Sie wiesen mehrere Verfassungsbeschwerden ab, darunter die einer Mutter aus Baden-Württemberg, um die sich die Initiative "Schule bleibt offen" gebildet hatte. Ist ein neuer Schul-Lockdown mit höchstrichterlichem Segen also nur noch eine Frage der Zeit?

Wäre die Entscheidung wirklich so klar, dann würde Stefanie Raysz, die Sprecherin von "Schule bleibt offen", am Telefon vermutlich andere Worte finden für den Karlsruher Richterspruch. "Wir sind ein bisschen enttäuscht", sagt Raysz: "Aber wir haben mindestens Teilsiege für die Rechte der Kinder errungen."

Das Verfassungsgericht, darauf spielt Raysz an, hat in seiner Entscheidung eine kühne Argumentationsschleife gedreht. Es hat die Schulschließungen gebilligt. Doch zugleich hat es erstmals "ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung anerkannt", die Schulpflicht also von einer Einbahnstraße in eine zweispurige Straße mit Hin- und Rückfahrbahn verwandelt. "Ein großer Fortschritt", findet Raysz.

Man kann aber auch sagen: Das Verfassungsgericht entdeckt im Grundgesetz ein Recht, nur um dann einen Eingriff in dieses Recht zu verteidigen. Einen schwerwiegenden Eingriff sogar, wie die Richter ausführen, der im Frühjahr aber zumutbar gewesen sei. Dafür führen sie eine Reihe von Gründen an, allen voran "überragende Gemeinwohlbelange" wie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Zudem hätten die Schulen nicht bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 vollständig schließen müssen, sondern bei 165 - die Hürde lag also höher als für die übrigen Kontaktbeschränkungen. Nicht nur Stefanie Raysz wertet das als Forderung, die Schulen erst zu schließen, wenn alle anderen Möglichkeiten geprüft und ausgeschöpft sind.

Schulschließungen sind erlaubt, aber an Bedingungen knüpft

Bemerkenswert ist, dass das Gericht der Bundesnotbremse zugutehält, die Schulschließungen "auf einen kurzen Zeitraum von gut zwei Monaten befristet" zu haben. Ende April, als das Infektionsschutzgesetz entsprechend geändert wurde, waren die meisten Schulen allerdings bereits seit vier Monaten geschlossen. Überhaupt hat kaum ein Land in Europa seine Schulen so lange geschlossen wie Deutschland, wie eine am Dienstag veröffentlichte Studie des Münchner Ifo-Instituts vorrechnete. Die Karlsruher Richter stellten keinen internationalen Vergleich an.

Zudem wären die Schulschließungen aus Sicht der Richter nur dann nicht erforderlich gewesen, wenn "eindeutig festgestellt werden könnte, dass Infektionen durch die weniger belastende Alternative geöffneter Schulen mit regelmäßigen Tests und Hygienemaßnahmen mindestens gleich wirksam hätten bekämpft werden können". Die wissenschaftliche Erkenntnislage zu dieser Frage sei jedoch "durch Unsicherheit geprägt". Formuliert das Gericht hier den Grundsatz "Im Zweifel für die Schulschließung" - in derselben Entscheidung, in der sie ein Recht auf schulische Bildung begründet?

Das Karlsruher Gericht hat ein Urteil vorgelegt, das Schulschließungen erlaubt, aber an Bedingungen knüpft. Dass diese Bedingungen aktuell in Bundesländern gegeben wären, wo die Fußballstadien voll und die Restaurants offen sind, muss man bezweifeln. Dass Karlsruhe nichts gegen vorgezogene Weihnachtsferien einzuwenden hätte, wenn das öffentliche Leben auch sonst heruntergefahren wird, kann man vermuten. Für Stefanie Raysz jedenfalls überwiegt das Positive. Das Verfassungsgericht habe Schulschließungen erschwert und ein Recht auf schulische Bildung inklusive Mindeststandards etabliert. Ein Recht, sagt Raysz, das sich im Zweifel auch einklagen lasse.

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