Schulen in der Pandemie:Lernstandserhebungen an Schulen? Hessens Kultusminister warnt vor "bürokratischem Irrsinn"

Schulbetrieb in Corona-Zeiten

Leere Klassenzimmer - leere Köpfe? Jeder fünfte Schüler könnte große Wissenslücken haben, warnt der Lehrerverband.

(Foto: Britta Pedersen/dpa)

Eine Milliarde Euro wollen Bund und Länder ausgeben, damit Schüler den in Wechsel- und Distanzunterricht versäumten Stoff nachholen können. Doch nun gibt es Streit: Muss man die Lücken erst vermessen, bevor man sie schließt?

Von Paul Munzinger, München

Die Pandemie richtet an den Schulen große Schäden an, die lange und teure Reparaturarbeiten nach sich ziehen werden. Das steht spätestens seit Beginn des zweiten Lockdowns im Dezember fest. Wie teuer, dazu liegen jetzt erste Schätzungen vor. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) veranschlagt die Kosten, um die coronabedingten Lernrückstände aufzuarbeiten, auf 1,5 Milliarden Euro. Das Kölner Institut rechnet in einer Studie, über die zunächst die Rheinische Post berichtet hatte, mit 1,5 Millionen Schülerinnen und Schülern, bei denen großer Förderbedarf entstanden sei. Es wäre "gut angelegtes Geld", schreiben die Autoren, "um die Verschärfung der Ungleichheit der Bildungschancen und deutlich größere Folgekosten zu vermeiden".

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, glaubt, dass es noch teurer wird. Zwei Milliarden Euro fordert er, was auch daran liegt, dass er die Zahl der Schüler mit großem Förderbedarf höher ansetzt. Bei mindestens 20 Prozent von ihnen habe er Bedenken, ob sie "überhaupt noch den verpassten Stoff aufholen können", sagte Meidinger der Deutschen Presse-Agentur. 20 Prozent, das wären bei etwa elf Millionen Schülern mehr als zwei Millionen.

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) vermutet große, "vielleicht sogar dramatische" Lernrückstände bei 20 bis 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen, wie sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte. Mit den Bundesländern verhandelt sie derzeit über ein Förderprogramm, das eine Milliarde Euro umfassen soll.

Dass die Zahlen so auseinandergehen, liegt auch daran, dass es sich um Schätzungen handelt, die auf Erkenntnissen aus Vor-Pandemie-Zeiten basieren. Nicht nur Karliczek und Meidinger, auch Bildungsforscher wie Aladin El-Mafaalani fordern deshalb, dass allen Fördermaßnahmen zunächst eine Bestandsaufnahme vorausgehen müsse. Eine Art Inventur, die ermittelt, wie groß die Defizite sind und wo genau sie liegen. Vor dem Start des Förderprogramms im Sommer müsse "in einer Lernstandserhebung ermittelt werden", wer welchen Nachholbedarf hat, forderte Karliczek.

Vergleichsarbeiten wie "Vera" fielen vielerorts aus

Die Lücken erst vermessen, dann schließen also? Über diese Frage entbrennt nun Streit zwischen Bund und Ländern. Denn viele Kultusminister halten die von Karliczek geforderte Reihenfolge für falsch. "Erst zentral in ganz Deutschland den Lernstand zu erheben, wäre ein bürokratischer Irrsinn", sagte Hessens Kultusminister Alexander Lorz der Süddeutschen Zeitung. Lorz ist ein Parteifreund der Bundesministerin und Koordinator der CDU-geführten Länder in der Kultusministerkonferenz. "Wenn wir erst testen und die Tests auswerten wollen, dann sind wir im nächsten Jahr noch nicht fertig", warnt Lorz. Dazu komme, dass es einen "erheblichen Aufwand bedeuten" würde, entsprechende standardisierte Tests zu entwickeln.

Allerdings liegen solche Tests durchaus vor, etwa die regelmäßig in den dritten und achten Klassen abgehaltenen Vergleichsarbeiten "Vera". In den meisten Ländern wurden sie allerdings wegen der Pandemie abgesagt. Einzige Ausnahme ist Hamburg, wo es deshalb auch die bisher einzige empirische Erhebung zu den Pandemiefolgen an deutschen Schulen gibt. Solche Tests könne und müsse man wieder einsetzen, sagt Lorz - aber nicht als erste Maßnahme. "Sobald die Kinder zurück in der Schule sind, müssen die Lehrerinnen und Lehrer individuell schauen, wer Hilfe braucht. Da vertrauen wir ganz der Kompetenz unserer Lehrkräfte. Und dann müssen erst so schnell wie möglich die Hilfsmaßnahmen kommen", so Lorz.

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