Süddeutsche Zeitung

Schule in Pandemiezeiten:"Corona schwebt wie eine dunkle Wolke über uns"

Lesezeit: 4 min

Florian Reetz, Landesschülervertreter in Niedersachsen, erklärt, warum die Schulen aus seiner Sicht stärker in die Pandemiebekämpfung einbezogen werden müssen - und wo Lehrer Nachhilfe ihrer Schüler brauchen.

Von Susanne Klein

Eine Maskenpflicht im Unterricht von der 7. Klasse an, bei einer Inzidenz von 50 - selbst diese Schutzmaßnahme präsentierten Bund und Länder am Mittwoch nicht als Muss. Auch andere Regeln, ob zu Schnelltests, Quarantäne oder Wechselunterricht, lassen Hintertüren offen. Derweil unterrichten immer mehr Schulen Klassen auf Distanz, fast 13 Prozent sind es nun, wie die Kultusministerkonferenz am Freitag mitteilte. Wie zufrieden sind Schülerinnen und Schüler mit den Antworten der Politik auf ihre Lage? Ein Gespräch mit dem niedersächsischen Landesschülervertreter Florian Reetz.

SZ: Herr Reetz, was halten Sie von den Beschlüssen?

Florian Reetz: Wir haben das mit dem Landesschülerrat, also Vertretern aller Schulformen aus ganz Niedersachsen, im Videocall besprochen. Der Tenor war: Schön, dass es einheitlichere Regeln gibt. Aber was nützt das, wenn sie erst ab einer extrem hohen Inzidenz und dann noch nicht mal verbindlich gelten?

Sie meinen die Alternativen zum Präsenzlernen, die in Hotspots mehr Abstand im Klassenzimmer ermöglichen sollen.

Ja, der Unterricht ab der 8. Klasse "soll" bei mehr als 200 Infektionen pro 100 000 Einwohner anders gestaltet werden, "beispielsweise" als Wechselunterricht mit geteilten Klassen. Das ist so vage, dass keiner danach handeln muss. Aber der Lockdown wird doch verlängert, weil die Pandemiebekämpfung nicht gereicht hat! Wir finden, jetzt muss man die Schulen stärker in die Maßnahmen einbeziehen.

Ihr Bundesland Niedersachsen hat das gerade beschlossen. Schulen gehen bei einer Inzidenz von 200 jetzt für mindestens 14 Tage in den Wechselunterricht.

Und das sogar schon ab der 7. Klasse. Aber das ist keine Prävention, die uns hilft, raus aus Corona zu kommen. Nicht nur das Robert-Koch-Institut empfiehlt, bei einer Inzidenz von über 50 die Klassen zu teilen. Die Politik setzt mal eben einen viermal höheren Wert an. Was ist mit den Tausenden Schulen, die dazwischenliegen?

Schulen sollen offen bleiben, sagen alle.

Wir brauchen die Schule weiter als Lernort und Zufluchtsort. Deshalb ist der Präsenzunterricht wichtig. Aber auch der Wechselunterricht besteht zur Hälfte aus Präsenz, das geht in der Debatte oft unter.

Wie lautet Ihre Forderung?

Wir fordern, alle weiterführenden Schulen in Niedersachsen in den Wechselunterricht zu schicken. Bis Weihnachten, flächendeckend, unabhängig von Inzidenzwerten. Ständig hören wir, meidet große Gruppen und haltet Abstand. Geteilte Klassen wären ein Beitrag dazu.

Dann müssten auch Schulen ohne Infektionsfälle mitmachen. Warum?

Woher will ich wissen, dass niemand infiziert ist, wenn 75 Prozent aller Corona-Fälle nicht zurückverfolgt werden können? Zu der Frage, welche Rolle Schulen in der Pandemie spielen, gibt es total unterschiedliche Studien und Ansichten. Wirklich wissen tut es offenbar niemand.

Machen Sie sich Sorgen?

Niemand möchte die eigene Mutter anstecken oder den Sitznachbarn, der das Virus an seinen Vater weitergibt, der womöglich zur Risikogruppe gehört. Darüber sprechen wir natürlich, dass wir für ganz großes Leid verantwortlich sein könnten.

Fühlen Sie sich damit ernst genommen?

Wir Schüler werden viel zu wenig gehört mit unseren Sorgen. Die waren am Mittwoch bei der Schalte wahrscheinlich gar kein Thema. Für uns gibt's nur ein vages Wäre, Könnte, Sollte. Das macht mich als Sprecher von 1,1 Millionen Schülerinnen und Schülern in Niedersachsen natürlich sauer.

Immerhin ordnet Niedersachsen Masken im Unterricht schon ab Klasse 5 an. Das ist strikter als am Mittwoch vereinbart.

Diese Maskenpflicht haben wir selbst eingefordert. Trotzdem bleibt ein großes Unwohlsein. An meiner Schule sind wir weiterhin mit 1200 Leuten in einem Gebäude, unsere Nachbarschule hat noch mal 1000 Schüler. Man läuft sich ständig über den Weg und drängt sich in Bussen und Bahnen. Wir sind immer angespannt.

Manche Länder versuchen, das Gedränge mit versetzten Anfangszeiten und mehr Bussen zu entzerren, aber beim Präsenzunterricht bleibt es. Wie läuft er, ist er vergleichbar mit dem vor der Pandemie?

Überhaupt nicht. Corona schwebt wie eine dunkle Wolke über uns. Die AHA-Regeln schränken uns bei allem ein, die Schutzmaßnahmen der Gesundheitsämter bringen die Abläufe durcheinander. So macht Lernen keinen Spaß.

Fällt mehr Unterricht aus als sonst?

Was sonst? Da sind die Lehrkräfte, die wegbleiben, weil sie zur Risikogruppe gehören, das werfen wir ihnen auch gar nicht vor. Dann die Lehrer in Quarantäne. Wenn sie können, unterrichten sie digital weiter, sonst geben sie Aufgabenblätter raus.

Dann sitzen die Schüler im Klassenraum, verfolgen aber Distanzunterricht?

Genau. Oder, wenn dort die Technik fehlt, fahren sie schnell nach Hause, nehmen an der Videostunde des Quarantäne-Lehrers teil, und fahren schnell wieder zurück zur nächsten Präsenzstunde. Mit Pech geht das wochenlang so. Oder, anderes Beispiel: Ein Leistungskurs Deutsch auf dem Weg zum Abi hatte sechs Monate lang nur Aufgabenblätter und gelegentliche Videomeetings, weil die Lehrkraft zu Hause war und es keine Vertretung gab. Aber weil sie ja zur Schule gingen, lief das unter dem Etikett Präsenzunterricht.

Ein Einzelfall?

Ein extremer Fall, aber kein Einzelfall. Wenn es an einer Schule kracht, weil das Gesundheitsamt Maßnahmen verhängt, werden Schüler und Schülerinnen oft alleingelassen. Dann müssen sie ein, zwei Wochen selbst überbrücken, weil die Schule nicht auf Fernunterricht vorbereitet ist.

Also auch nicht auf Wechselunterricht.

Der ist politisch ja auch nicht gewollt. Allein schon, weil die digitale Ausstattung fehlt, die eigentlich längst angeschafft hätte sein können. Oder weil zu Hause die Betreuung fehlt. Dabei könnte Distanzunterricht auch in Hotels, Museen oder Konferenzräumen stattfinden, Videotechnik gibt es da fast überall. Aufsichtspersonen dürften sich bei der jetzigen Job-Lage auch finden lassen, zum Beispiel Studierende.

Haben denn die Lehrer in diesem Jahr digital dazugelernt?

Auf dem Papier schon, es gab viele Fortbildungen. Aber wir sehen, dass sich gerade die nicht fortbilden, die es bräuchten. Da fehlt das Interesse. Andere kommen nach 30 Minuten Mikrofortbildung in die Klasse und führen stolz eine neue App vor. Von Lehrern, die Riesenfortschritte gemacht hätten, habe ich aber nicht gehört.

Und trotzdem fordern Sie Wechselunterricht? Wie soll der funktionieren?

Pragmatisch. Die einfachste Art, schnell hybrid zu gehen, ist, den Präsenzunterricht abzufilmen und hochzuladen. Dafür braucht die Lehrkraft nur ein Smartphone oder Laptop mit Kamera und ein halbwegs gutes Mikro. Bei Problemen helfen wir gern. Wir Schüler erklären Lehrern ja auch, wie das Smartboard funktioniert.

Und wenn Schüler kein Gerät haben, um das Unterrichtsvideo anzuschauen?

Solange eine Schule noch nicht genug Leihgeräte hat, könnten sich Schüler gegenseitig Geräte leihen oder sich zu zweit zusammentun. Viele Schulen waren doch schon vor Corona die Gekniffenen, die ständig improvisieren mussten. Diese Problemlösefähigkeit ist ja noch da! Das Allerwichtigste ist, dass wir solidarisch mit allen Einschränkungen umgehen, die wir nicht sofort abstellen können.

Kritiker bezeichnen die Befürworter des Wechselunterrichts gern als Minderheit. Welchen Rückhalt haben Sie in der Schülerschaft?

Das ist nichts, was wir in einem fünfköpfigen Team ausgeheckt haben. Schülervertretungen aus Kreisen und Städten im ganzen Land unterstützen unsere Forderung. Auch in anderen Bundesländern wollen viele, dass die Klassen geteilt werden. Man muss sich nur mal auf deutschen Schulhöfen umhören: Viele Schülerinnen und Schüler verstehen nicht, dass man die Großveranstaltung Schule weiter so zulässt.

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