Schuldspruch gegen Michail Chodorkowskij:Ein Urteil mit Signalwirkung

Ein Moskauer Gericht hat den Ex-Milliardär Michail Chodorkowskij zum zweiten Mal verurteilt - die Entscheidung verrät viel über die Lage in Russland und die Macht von Wladimir Putin. Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Fall Chodorkowskij.

M. Conradi

Wer ist Michail Chodorkowskij?

Jailed Russian former oil tycoon Khodorkovsky stands in the defendants' cage before the start of a court session in Moscow

Der 47-jährige Michail Chodorkowskij steht am Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal in Moskau.

(Foto: REUTERS)

Zwei tiefgreifende Wandlungen hat Michail Chodorkowskij schon hinter sich und auch eine dritte ist ihm zuzutrauen: Nicht wenige reformorientierte Russen träumen davon, dass er einmal Präsident ihres Landes werden könnte.

Schon in jungen Jahren galt der 1963 in Moskau geborene Chodorkowskij als hochintelligent, den chemischen Experimenten, die der Junge im Elternhaus durchführte, konnte sein Vater schon bald nicht mehr folgen. Sein Mathematik-Studium begann Chodorkowskij mit dem Ziel, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten, die Sowjetunion sah er umzingelt von Feinden.

Aus dem überzeugten Kommunisten wurde gegen Ende der achtziger Jahre, also noch vor dem Zerfall der UdSSR, ein Turbokapitalist. Geschickt nutzte er schon zu Sowjetzeiten politische Verbindungen und verdiente mit dem Handel mit Computern und Alkohol den Grundstein seines Vermögens. Die Gewinne investierte Chodorkowskij in den Aufbau einer der ersten Privatbanken Russlands.

Einer der reichsten Männer der Welt

Im Zuge der Privatisierungen nach dem Ende der Sowjetunion, als viele Privatunternehmer billig in den Besitz großer Staatsfirmen gelangten, kaufte Chodorkowskij das marode Ölunternehmen Yukos. In rasantem Tempo baute Chodorkowskij den Konzern um, nutzte geschickt Gesetzeslücken, tilgte die horrenden Schulden und schuf ein prosperierendes Firmen-Imperium mit 100.000 Mitarbeitern.

2003 wurde sein Privatvermögen auf acht Milliarden Dollar geschätzt, Chodorkowskij kletterte in der Liste der reichsten Menschen der Welt auf Platz 26. Er hätte seine Erfolge in Ruhe genießen können - so wie all die anderen Oligarchen, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegten oder sich damit beschäftigten, ihr Vermögen in immer größere Jachten und Paläste zu investieren.

Verhaftung im Privatjet

Doch Chodorkowskij vollzog einen weiteren Wandel: Indirekt unterstützte er die reformorientierte Opposition im Kreml, wetterte öffentlich gegen Korruption und die Verquickungen zwischen dem Staat und den Wirtschaftsunternehmen und zeigte gar Ambitionen auf das Präsidentenamt.

Am 25. Oktober 2003 war es soweit: Geheimdienstmitarbeiter zerrten Chodorkowskij aus seinem Privatjet. Wegen Steuerhinterziehung und Betrugs wurden er und sein Geschäftspartner Platon Lebedjew zu acht Jahren Arbeitslager in Sibirien verurteilt. Dass hier ein Exempel statuiert würde, räumten sogar Regierungsmitarbeiter ein.

Inzwischen gilt Chodorkowskij vielen Russen als Märtyrer und Kämpfer für ein anderes, ein besseres Russland. Diszipliniert und duldsam hat er sieben der acht Jahre abgesessen. Doch rechtzeitig vor dem Ende seiner Haftzeit im kommenden Jahr wurde ein neuer Prozess auf den Weg gebracht.

Worum ging es in dem zweiten Verfahren?

Mindestens sechs weitere Jahre Haft will die Staatsanwaltschaft Chodorkowskij und seinen Partner Lebedew diesmal hinter Gitter bringen. Die Gründe, die sie dafür im Laufe der Verhandlung angeführt hatte, wurden von Beobachtern einhellig als absurd bezeichnet: Die beiden ehemaligen Ölmanager sollen Tochterunternehmen ihrer eigenen Firma Erdöl im Milliardenwert gestohlen haben.

Schuldspruch gegen Michail Chodorkowskij: Richter Wiktor Danilkin verliest am 27. Dezember 2010 das Urteil im Prozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedjew.

Richter Wiktor Danilkin verliest am 27. Dezember 2010 das Urteil im Prozess gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedjew.

(Foto: AP)

Putins ehemaliger Wirtschaftsminister German Gref sagte im Zeugenstand aus, es gebe keine Hinweise auf solch ein Verbrechen. Die Unterschlagung von so viel Öl sei gar nicht möglich gewesen, ohne dass die politische Führung des Landes davon erfahren hätte.

Chodorkowskijs Verteidigung spricht von einer politischen Inszenierung und hat Freispruch beantragt. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) äußerte kürzlich bei einem Besuch in Moskau "sehr ernsthafte Besorgnis" über die Umstände des Verfahrens. "Es liegt im russischen Interesse, dass diese Sorgen ernst genommen werden", sagte Westerwelle. Nach Ansicht russischer und internationaler Rechtsexperten spotten die Beweisaufnahme und Zeugenvernehmung jedem fairen Verfahren.

Was besagt das Urteil?

Vladimir Putin

Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin während einer Fernsehdiskussion mit Bürgern.

(Foto: AP)

Richter Wiktor Danilkin hat Chodorkowskij und Lebedjew schuldig gesprochen. Wie es in Russland üblich ist, machte der Richter zu Beginn der Urteilsverlesung keine Angaben zum Strafmaß.

Wörtlich hieß es: "Das Gericht sieht es als erwiesen, dass Chodorkowskij und Lebedjew fremdes Eigentum gestohlen haben, indem sie als organisierte Gruppe in Abmachung und unter Missbrauch ihrer Position agierten." Es könnte noch Tage, wenn nicht gar Monate dauern, bis das Strafmaß für die beiden bekanntgegeben wird.

Vor der Verlesung der Urteilsbegründung hatte Danilkin die Fotografen und Fernsehteams des Saals verwiesen, während ihre schreibenden Kollegen bleiben durften. Vor dem Gerichtsgebäude kam es zu Festnahmen. Hier forderten Hunderte Demonstranten Freiheit für den früheren Chef des mittlerweile zerschlagenen Ölkonzerns Yukos.

Wie reagiert der Westen auf das Urteil?

Jailed Russian former oil tycoon Khodorkovsky smiles as he stands in the defendants' cage before the start of a court session in Moscow

Er meldete sich aus dem Gefängnis immer wieder zu Wort und gab westlichen und russischen Medien Interviews: Michail Chodorkowskij

(Foto: REUTERS)

Die Kritik auf das Moskauer Urteil ließ nicht lange auf sich warten. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), sprach von einem "Beispiel für politische Willkürjustiz". Löning sagte, er sei "zutiefst empört über den Schuldspruch." Das Urteil werfe kein gutes Licht auf die Zustände in Russland.

Zurückhaltender äußerte sich Regierungssprecher Christoph Steegmans: Man könne den Fall erst umfassend bewerten, wenn das Urteil vollständig bekannt sei und auch Strafmaß und Urteilsbegründung vorlägen. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) kommentierte das Urteil so: "Die Umstände des Verfahrens sind äußerst bedenklich und ein Rückschritt auf dem Weg zur Modernisierung des Landes."

Der Russland-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Peter Franck, kritisierte: "Das Urteil und das gesamte Verfahren zeigen, wie weit Russland von einem Rechtsstaat entfernt ist."

Unionsfraktionsvize Andreas Schockenhoff (CDU) bemängelte, der Schuldspruch "bestätigt die Sorge, dass dieser Prozess nicht den rechtsstaatlichen Bedingungen entspricht, zu denen sich Russland verpflichtet hat". Urteil und Prozessverlauf "sind ein Rückschlag für die Bemühungen um mehr Rechtssicherheit in Russland". Sie liefen den Modernisierungsbemühungen Medwedjews zuwider.

Der SPD-Außenexperte Gernot Erler bezeichnete das Urteil als Rückschlag für die Reformbemühungen von Russlands Präsident Medwedjew. Umso wichtiger sei es jetzt, jene Kräfte in Russland zu unterstützen, die für eine Modernisierung und Öffnung des Landes einträten.

Grünen-Chefin Claudia Roth sprach von einem Zeichen für eine politisch gelenkte russische Justiz. "Dieser Schuldspruch bedeutet nicht nur eine menschliche Katastrophe für den ehemaligen Yukos-Chef, sondern auch eine Niederlage für den liberaleren Kurs von Präsident Medwedjew", sagte sie der Zeitung Die Welt. Für die weitere Demokratisierung und Modernisierung Russlands sei es ein schwarzer Tag.

Die EU rief Moskau zur Achtung der Menschenrechte auf. Man erwarte von Russland,. "dass es seine internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit respektiert", sagte die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. Ashton habe das Urteil zur Kenntnis genommen, erklärte sie. Die EU werde künftige Ereignisse genau verfolgen, auch das Strafmaß für Chodorkowskij.

Welche Rolle spielt Putin?

Police officers detain a man during a rally to support Khodorkovsky in front of the court building in Moscow

Polizeibeamte nehmen einen Mann in Gewahrsam, der in Moskau für Michail Chodorkowskij demonstriert hatte. Das Image der Russischen Föderation hat wegen des zweiten Prozesses weiter gelitten: Die fehlende Rechtsstaatlichkeit trat offen zutage. Dabei schätzen gerade Investoren Stabilität.

(Foto: REUTERS)

Mit seiner Einmischung in die Politik und seinem Einsatz für Transparenz und Meinungsfreiheit habe Chodorkowskij, so glauben viele, eine implizite Abmachung zwischen dem damaligen Präsidenten Wladimir Putin und den Wirtschaftsführern des Landes verletzt: Die Oligarchen sollten sich aufs Geschäft konzentrieren.

Bis zu seiner Verhaftung hatte Chodorkowskij auch Wladimir Putin persönlich immer wieder scharf kritisiert. Beobachter glauben deshalb, dass sich Chodorkowskij dem allmächtigen Präsidenten als Opfer geradezu anbot. Putin soll demnach an dem unbequemen Manager ein Exempel statuiert haben, als Warnung an andere.

Nach seiner ersten Verurteilung wurde Chodorkowskijs Konzern zerschlagen und ging in dem staatlich kontrollierten Ölunternehmen Rosneft auf. Putin hat nie einen Hehl aus seinem Vorhaben gemacht, den russischen Staat zu alter Größe zu führen und privatisierte Firmen wieder in Staatsbesitz zu bringen.

Mordvorwürfe vom Ministerpräsidenten

Aus dem Umfeld Putins hat es in den vergangenen Monaten immer wieder Rufe nach einer Verurteilung Chodorkowskijs gegeben. Russland-Experten argwöhnen, dass der jetzige Ministerpräsident Putin einen Freispruch schon deshalb nicht zulassen könne, da in diesem Falle die Zerschlagung von Yukos neu untersucht werden könnte. Für Putin wäre es ein Gesichtsverlust, wenn seiner Regierung und dem Justizapparat in dieser heiklen Angelegenheit Fehler nachgewiesen werden könnten.

Zuletzt hatte Putin persönlich weitere Vorwürfe erhoben: In einer Fernsehsendung sagte der Ministerpräsident, an Chodorkowskijs Händen klebe Blut. Der Yukos-Konzern soll demnach hinter der Ermordung eines Bürgermeisters stehen. Nicht auszuschließen, dass Putin seine Äußerungen als Drohung an Chodorkowskij verstanden haben wollte, ihm jederzeit einen dritten Prozess machen zu können.

Wenige Tage vor der geplanten Urteilsverkündung hatte Putin den Druck auf die Richter ein weiteres Mal erhöht: "Ein Dieb gehört ins Gefängnis", verkündete Putin. Die Schuld Chodorkowskijs sei erwiesen. Der amerikanische Betrüger Bernard Madoff sei wegen ähnlicher Vergehen zu 150 Jahren Haft verurteilt worden, sagte Putin. "Ich denke, da sind wir erheblich liberaler."

Der Angeklagte selbst machte sich über den Ausgang des Verfahrens offenbar keine Illusionen und knüpfte sein Schicksal eng an das Putins. Zuletzt zeigte er sogar Mitgefühl mit Putin: "Ich fühle Mitleid mit diesem nicht mehr jungen Mann, der tapfer und einsam vor einem endlosen, gnadenlosen Land steht."

Was sagt Chodorkowskij?

Demonstration in support of Mikhail Khodorkovsky

Vor dem Gericht in Moskau demonstrieren Anhänger von Michail Chodorkowskij gegen das Urteil. Auch im westlichen Ausland löste die Entscheidung Kritik aus.

(Foto: dpa)

In seinem ergreifenden Abschlussplädoyer sagte der Angeklagte zwei Wochen vor der Urteilsverkündung, er müsse wohl so lange in Haft bleiben, wie Putin an der Macht sei. Kurz zuvor hatte die Los Angeles Times ein Schreiben des prominenten Häftlings veröffentlicht. "Niemand erwartet einen Freispruch", heißt es darin. "Im Fall Yukos gibt es keine Freisprüche."

In verschiedenen Interviews hatte Chodorkowskij zuvor seine Strategie vor Gericht beschrieben: Er habe stets so getan, als liefe ein normaler Prozess gegen ihn ab, bei dem er die Richter von seiner Unschuld überzeugen müsse. So könne er zumindest erreichen, dass die Öffentlichkeit die Unhaltbarkeit der Anklage sähe.

Und das, beteuert der heute 47-Jährige, sei ihm inzwischen wichtiger als seine persönliche Freiheit. Notfalls wolle er bis zu seinem Tod um Gerechtigkeit kämpfen, sagte Chodorkowskij in seinem Schlusswort vor Gericht. "Mein Glaube ist mir mehr wert als das Leben", fuhr er fort.

"Mach das lieber nicht in Russland"

Es sieht also nicht danach aus, als wäre Chodorkowskij zu einem Kompromiss mit den Machthabern bereit und würde nach seiner Freilassung klein beigeben. Immer wieder meldet er sich aus dem Gefängnis zu Wort und beschwört das freie Unternehmertum, das unterdrückt werde durch Korruption und Willkür.

Ohne grundlegende Veränderungen könne Russland sich nicht aus der tiefen Krise befreien, in der es sich befinde, sagte Chodorkowskij vor wenigen Wochen dem Spiegel. "Mein Beispiel signalisiert doch potentiellen Gründern innovativer Unternehmen: Mach das lieber nicht in Russland", erklärte er. "Ein Modernisierungsschub ohne politische Reformen ist unmöglich." Putin müsse zeigen, dass er die Interessen des Landes über die der Bürokratie und seiner eigenen Ambitionen stelle.

Was bedeutet der Prozess für Russlands Zukunft?

Das Ansehen Russlands in der Welt erlitt schon unter dem ersten Prozess gegen Chodorkowskij schweren Schaden. Jede weitere Aufnahme des Angeklagten mit dem engelsgleich gesenkten Blick, jedes weitere seiner unbeugsamen Statements zementiert das Bild eines Russlands, in dem Recht und Gesetz nur wenig gelten. Die nun verkündete zweite Verurteilung Chodorkowskijs richtet nicht unerheblichen wirtschaftlichen und politischen Schaden an, darin sind sich die meisten Beobachter einig.

Dabei hatte Präsident Dimitrij Medwedjew in der Vergangenheit immer wieder für Rechtsstaatlichkeit und eine grundlegende Justizreform ausgesprochen. Medwedjew wollte Schluss machen mit Willkür und "Rechtsnihilismus", der Strafvollzug sollte "humanisiert" und Strafen für Wirtschaftsdelikte gesenkt werden. Nicht nur die Süddeutsche Zeitung vermutet, dass es Medwedjew "eher um den optischen Eindruck einer unabhängigen Justiz" gegangen sei. Denn der russische Präsident hätte laut Verfassung Chodorkowskij längst begnadigen können.

Wikileaks plant Veröffentlichung zu Chodorkowskij

Kommentatoren bezeichneten den Prozess deshalb immer wieder als Test für Russlands Rechtsstaatsfähigkeit, als Wegmarke, an der sich entscheidet, in welche Richtung das Land sich entwickeln wird. Ob Chodorkowskij sich in den wilden Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion schuldig gemacht hat oder nicht, gilt vielen dabei inzwischen als zweitrangig.

Auch nach der heutigen Urteilsverkündung dürfte der Fall Chodorkowskij hochrangige russische Politiker weiter in Atem halten. Wie die regierungskritische Wochenzeitung Nowaja Gazeta berichtet, steht die Enthüllungswebsite Wikileaks vor der Veröffentlichung geheimer Dokumente, aus denen Verstrickung von Politikern in das Gerichtsverfahren hervorgehen.

Unterdessen wächst Chodorkowskijs Ansehen in der Bevölkerung immer weiter. Seine Duldsamkeit, sein stiller Kampf für Reformen, imponiert vielen Russen. Und so wird ihm vieles zugetraut, sollte er einmal freigelassen werden, sogar die Staatsführung.

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