Süddeutsche Zeitung

Schuldenkrise in Griechenland:"Ich wünsche mir eine Geste, die Athen eine Perspektive aufzeigt"

Kaum ein Politiker in Europa verstehe, wie gedemütigt sich die Griechen wirklich fühlten, sagt Politik-Professor Loukas Tsoukalis.

Von Matthias Kolb, Athen

Loukas Tsoukalis ist Politik-Professor an der Universität Athen und Präsident der Eliamep-Stiftung für europäische und internationale Politik. Der 65-Jährige hat in Großbritannien, Frankreich und Italien gelehrt. Als er an der Oxford-Universität unterrichtete, lernte er einen Landsmann kennen: Euklid Tsakalatos, den neuen griechischen Finanzminister. Dessen Ernennung sieht Tsoukalis als "wichtige Geste" an die europäischen Partner. Er wünscht sich, dass Merkel, Hollande, Juncker und Co. künftig andere und versöhnlichere Worte verwenden.

SZ: Professor Tsoukalis, wenn Sie heute vor dem EU-Gipfel fünf Minuten mit Angela Merkel reden könnten: Was würden Sie der Bundeskanzlerin sagen?

Loukas Tsoukalis: Ich würde ihr sagen, dass Griechenland durch fünf extrem schwierige Jahre gegangen ist. Das Resultat ist folgendes: Die Wirtschaft ist ebenso implodiert wie das politische System. Die größte Schuld daran tragen natürlich die Griechen, weil unsere Ökonomie trotz Euro-Mitgliedschaft nicht wettbewerbsfähig ist und wir zu viele Schulden haben. Auch die Geldgeber und EU-Partner sind nicht schuldlos, denn sie wollten nicht erkennen, dass dies kein rein griechisches Problem ist - die Eurozone hat systemische Fehler. Zudem haben sie die Lage Athens falsch eingeschätzt.

Was wurde nicht richtig beurteilt?

Griechenland war nicht illiquide, sondern insolvent. Es mangelte also nicht an Geld, und trotzdem wurden Milliarden in das System gepumpt, um die ausländischen Banken zu retten, die gierig waren und sich verantwortungslos verhalten haben. Gewiss, die griechische politische Klasse hat die nötigen Reformen nur halbherzig durchgesetzt, aber der Austeritätskurs war irrational und hat Griechenlands Wirtschaft zerstört. Ich würde Merkel vor allem sagen: Es gibt hier keinen einzelnen Schuldigen, alle haben Fehler gemacht und wir müssen eine Lösung finden - als Partner.

EU-Kommissionschef Juncker hat gesagt, Tsipras solle ihm helfen, das "Nein" der Griechen beim Referendum zu verstehen. Haben Ihre Landsleute am Sonntag gegen Europa gestimmt?

Niemand kann ernsthaft behaupten, dass 62 Prozent der Griechen gegen eine EU-Mitgliedschaft sind. Seit Jahrzehnten zeigen alle Umfragen: Die Griechen sind europhil und überzeugte Europäer. Ich habe für ein "Ja" geworben, weil ich genau diese Wahrnehmung befürchtet habe. Die Abstimmungsfrage war unsinnig, aber die Konsequenz steht nun mal fest und muss akzeptiert werden: Alexis Tsipras ist durch das "Ochi" gestärkt worden.

Die Chefs der griechischen Parteien haben sich gestern mit Präsident Pavlopoulos getroffen und sich auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt. Ist dies mehr als Symbolik?

Diese Sitzung ist ein großer Fortschritt. Die griechischen Parteien waren stets verfeindet und zerstritten, und es hat fünf qualvolle Jahre gedauert, bis es nun einen gemeinsamen Nenner gibt. Seit 2010 ist ein Viertel der Wirtschaftsleistung weggebrochen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent und jeder Grieche hat nach Abzug aller Steuern heute etwa 40 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung. Also kam es zu einem politischen Erdbeben, das die alte Elite hinweg gefegt hat. Als Deutscher wissen Sie ja, dass dies in vielen Ländern passiert ist - und nur selten kommen erfahrene Politiker an die Macht.

Wie würden Sie die Position von Alexis Tsipras vor dem Treffen in Brüssel beschreiben? Und was erwarten Sie vom heutigen Gipfel?

Tsipras weiß die Mehrheit der Griechen hinter sich. Ich habe eine Hoffnung: Ich wünsche mir eine Geste, die Athen eine Perspektive aufzeigt. Das könnte so aussehen: Athen sorgt für einen niedrigen primären Budgetüberschuss und verspricht, das Rentensystem mittelfristig lebensfähig zu halten. Wenn diese wichtigen strukturellen Reformen in sechs bis zwölf Monaten erfüllt sind, dann sollten die Geldgeber eine Umstrukturierung der Schulden versprechen - am besten kombiniert mit einem kleinen Marshall-Plan, wie eine Entwicklungshilfe. Dies wäre keine Hilfe ohne Auflagen. Desaströs wäre es, wenn wir für das "Nein" bestraft und als alleinige Schuldige dargestellt würden. Wie gesagt, es kommt auf die Symbolik an.

Wie könnte diese Geste von Merkel, Hollande und Co. aussehen?

Um für Verbesserungen zu sorgen, ist gar nicht viel Geld nötig. Vieles ließe sich durch eine andere Wortwahl und eine andere Sprache ändern. Das gilt auch für die griechische Seite. Dass Varoufakis die Geldgeber als "Terroristen" bezeichnet hat, war nicht hilfreich. Es geht darum, dass alle wieder als Partner zusammenarbeiten und sich nicht mehr als Gegner fühlen.

Viele griechische Bürger ging es am Sonntag um die Würde, nun wünschen sie sich eine Perspektive, die an die Reformauflagen geknüpft ist.

Ich glaube, dass nur Juncker verstanden hat, wie gedemütigt sich die Griechen fühlen. Seit fünf Jahren hören sie, dass sie faul, korrupt und wertlos seien. Auch seien sie als Einzige schuld an der verfahrenen Situation. Es geht nicht, dass Technokraten mit roter Tinte ernst gemeinte Vorschläge zusammenstreichen und alles vorschreiben - von der Höhe der Mehrwertsteuer bis zu anderen Details. Ich bin wahrlich kein Fan von Tsipras und Syriza, aber dieses Verhalten hat auch mich geärgert. Da hat es ganz enorm an Fingerspitzengefühl und Sensibilität gefehlt.

Tsipras wirkt sehr mächtig zurzeit. Gibt es einen griechischen Politiker, der ihm gefährlich werden könnte, auch wenn Hellas die Eurozone verlassen muss?

Nein, es gibt keinen Zweifel, dass Tsipras der mit Abstand mächtigste Politiker Griechenlands ist. Keiner aus der Opposition hat eine Chance gegen ihn, und seine Macht gegenüber der in sich oft zerstrittenen Syriza-Partei ist auch gestärkt. Ich bin kein Fan von ihm, aber alle müssen akzeptieren, dass er beim Volk populär ist und dort als glaubwürdig gilt. Es ist nicht die Aufgabe ausländischer Politiker, Tsipras zu stürzen. Das werden die Griechen tun, wenn sie es für richtig halten.

Also müssen die Chefs der anderen EU-Staaten mit Tsipras nach einer Lösung suchen.

Genau. Ich hoffe sehr, dass die Athener Regierung nun besser verhandelt, nachdem Varoufakis weg ist. Natürlich waren sie unerfahren, aber das muss aufhören. Ich habe die Verhandlungsführung von Syriza neulich als Mischung aus "Arroganz und dem diplomatischen Geschick eines Elefanten" beschrieben. Aber wir brauchen eine Lösung, denn wenn wir scheitern, dann wäre das ein Desaster für uns Griechen, aber auch für die EU. Ich bin ein überzeugter Europäer, und das Ansehen der EU auf globaler Bühne hat schon genug gelitten. Amerikaner, Chinesen oder Brasilianer: Sie schütteln doch den Kopf darüber, dass wir unsere Probleme nicht lösen können. Es steht viel auf dem Spiel.

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