Süddeutsche Zeitung

Schriftsteller Antonio Skármeta:"Integration heißt, das Anderssein auszuhalten"

Antonio Skármeta verfasste die Vorlage des Kinoerfolgs "Il Postino" im Berliner Exil. Der chilenische Ex-Botschafter spricht über sein Lebensthema Auswanderung und seine Heimat - nach Pinochet.

Katarina Lukac

Weltweit litten Millionen Kinobesucher mit dem Briefträger Mario, der 1994 in Il Postino mit Hilfe des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda auf einer kleinen italienischen Insel um seine Angebetete buhlt und schließlich bei einer politischen Demonstration ums Leben kommt. Die Geschichte basiert auf dem Roman Mit brennender Geduld, den der chilenische Schriststeller Antonio Skármeta knapp zehn Jahre zuvor verfasst hatte - in Westberlin. Skármeta lebte während der Pinochet-Diktatur 15 Jahre lang im Exil in Deutschland.

Mit brennender Geduld wurde inzwischen in mehr als 30 Sprachen übersetzt, Skármeta gilt als einer der bedeutendsten Autoren Lateinamerikas. Von 2000 bis 2003 kam er als Botschafter des inzwischen demokratischen Chile an die Spree zurück. sueddeutsche.de hat den Schriftsteller, der unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde und mit einer Deutschen verheiratet ist, kurz vor seinem 70. Geburtstag in Berlin getroffen - und einen warmherzigen, humorvollen Gesprächspartner vorgefunden.

sueddeutsche.de: Herr Skármeta, warum feiern Sie Ihren Siebzigsten in Deutschland?

Antonio Skármeta: Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat mich für einige Monate nach Berlin eingeladen - im Rahmen desselben Künstlerprogramms, mit dem ich 1973 nach der Machtergreifung Augusto Pinochets in Chile erstmals in Deutschland Fuß fassen konnte. Als ich beschloss, Chile nach dem Militärputsch zu verlassen - die Situation im Land war unerträglich -, war der erste Mensch, zu dem ich Kontakt hatte, ein Deutscher: der Regisseur Peter Lilienthal.

sueddeutsche.de: Hatten Sie sich bewusst für eine Ausreise nach Deutschland entschieden?

Skármeta: Ich wollte einfach nur weg aus Chile und wäre überall hingegangen. Ich sprach kein Wort Deutsch. Inzwischen denke ich, dass es mehr war als ein reiner Zufall, der mich nach Deutschland führte. In den siebziger Jahren existierte in Deutschland ein starkes politisches Bewusstsein, überall in der Welt wurden Demokratisierungstendenzen unterstützt. Vor allem Salvador Allendes Versuch eines friedlichen und demokatischen Sozialismus gefiel vielen jungen Deutschen. Die Leute waren von seinem Tod erschüttert.

sueddeutsche.de: Während Ihres 15-jährigen Aufenthalts ist Ihnen Berlin nach eigener Aussage zur zweiten Heimat geworden, Sie sind seitdem sogar mit einer Berlinerin verheiratet. Aus heutiger Sicht würde man dazu sagen: Sie waren perfekt integriert.

Skármeta: Stimmt, und ich konnte viele Freunde und Wegbegleiter nun wiedertreffen. Schon zwei Jahre nach meiner Ankunft wurden meine ersten Bücher auf Deutsch veröffentlicht, ich konnte Hörspiele verkaufen und gewann Preise mit meinen Drehbüchern - was für mich als freiberuflichen Schriftsteller überlebenswichtig war. Voraussetzung für all das war aber, dass auch ich Deutschland in mein Herz schloss: Ich lernte Deutsch und las erstmals die deutschen Romantiker wie Kleist, Heine und Hölderlin. Ohne die Sprache zu beherrschen, wäre ich auf ewig der exotische Schriftsteller geblieben, der bestenfalls durch die Pfarrsäle der deutschen Provinz tingelt.

sueddeutsche.de: Als Sie in Deutschland ankamen, hatten Sie so gut wie nichts vorzuweisen. Man fragt sich, warum es anderen Einwanderern so schwer fällt, Fuß zu fassen - Bundeskanzlerin Merkel hat vor kurzem die sogenannte Multikulti-Gesellschaft als gescheitertes Modell bezeichnet.

Skármeta: Eine wichtige Rolle spielt gewiss, dass wir Chilenen in Deutschland sehr herzlich aufgenommen wurden. Auch wenn ich über das politische Tagesgeschäft in Deutschland nicht genau im Bilde bin - die Spielregeln bei der Einwanderungsfrage sollten überall dieselben sein: Die Einwanderer müssen das Anderssein ihrer neuen Umgebung genauso sehr aushalten wie die Einheimischen das Anderssein der Immigranten. Ich persönlich liebe multikulturelle Gesellschaften. Aber ein Gleichgewicht lässt sich nur im direkten Dialog finden, so mühselig dieser auch sein mag.

sueddeutsche.de: Ihr literarisches Alter Ego, dem das Einleben in Deutschland trotz anfänglicher Mühe gelingt, ist Lucho, der 14-jährige Held Ihres Jugendromans Nixpassiert: Warum greifen Sie bei der Thematisierung der Emigration so gerne auf jugendliche Protagonisten zurück?

Skármeta: Die Jugend besitzt zwei Stärken, die uns Erwachsenen mit der Zeit unweigerlich abhandenkommen: Idealismus und geistige Flexibilität. Auch mein neuer Roman Mein Vater aus Paris handelt von Erwachsenen, die fern ihrer Heimat zugrunde gehen - wegen ihrer verlorenen Ideale, ihrer Armut und ihrer Unsicherheit. Am Boden zerstörte Eltern verwandeln sich in eine Art Waisenkinder. Hier kommt es zu einer bemerkenswerten Umwandlung: In Auswandererfamilien - und ich glaube, dass das auch in Deutschland der Fall ist - müssen Kinder oft die Rolle ihrer eigenen Eltern übernehmen. Sie sind dann die Eltern ihrer eigenen Eltern. Auch mir haben damals das, was ich über Deutschland nicht begreifen konnte, meine eigenen Kinder beibringen müssen.

sueddeutsche.de: Sofern Eltern sich auf den Einfluss ihrer Kinder einlassen, insbesondere wenn sie aus einer patriarchalischen Gesellschaft kommen.

Skármeta: Diese patriarchalischen Strukturen sind auch in Lateinamerika noch verbreitet. Deshalb behandelt die Literatur unseres Kontinents mit Vorliebe zwei Vater-Typen: Einmal den schwachen Vater, der Versuchungen schnell nachgibt und die Familie im Stich lässt. Auf der anderen Seite steht der autoritäre Erzieher, der strenge, unüberwindbare Regeln setzt - solch ein Autoritarismus führt zu Menschen wie Pinochet, zu Gewaltherrschern - und letztlich auch zu den berümten Diktatorenromanen der siebziger Jahre. Der Schaden, den Autokratie einer Gesellschaft zufügt, ist ein großes Thema der Literatur, etwa bei den Literaturnobeltreisträgern García Márquez und dem jüngst ausgezeichneten Vargas Llosa.

sueddeutsche.de: Ist die Gefahr vor Diktaturen in Lateinamerika gebannt?

Skármeta: Heute haben sich in Lateinamerika demokratische Republiken etabliert. Selbsternannte Erleuchtete, messianische Führerfiguren sind glücklicherweise aus der Mode.

sueddeutsche.de: Wenn man sich das Gebaren des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez oder seines bolivianischen Kollegen Evo Morales ansieht, könnte man einen anderen Eindruck gewinnen.

Skármeta: Ich stimme Ihnen zu, dass Chávez extrem viel Macht angehäuft hat. Doch beide wurden demokratisch gewählt, sie sind keine Gewaltherrscher. Gerade in Bolivien muss Morales gegen starke Widerstände in der Opposition ankämpfen, was sich positiv auf die demokratische Kultur des Landes auswirkt. Die Politik des Autoritarismus führt immer in ein Scheitern und in eine Katastrophe.

sueddeutsche.de: Als Botschafter in Berlin waren Sie selbst politisch tätig. Warum wurden ausgerechnet Sie als Schrifsteller für diese Aufgabe ernannt?

Skármeta: Ich war schon immer Demokrat. Während der Pinochet-Diktatur habe ich in meinem Fachgebiet - der Literatur - den Widerstand in Chile unterstützt. Etwa indem ich jungen chilenischen Schriftstellern zu Stipendien oder Veröffentlichungen verhalf. Es handelte sich also um keine lodernden Aktionen, sondern darum, ein demokratisches Bewusstsein zu schaffen.

sueddeutsche.de: Geholfen hat womöglich auch, dass Sie in Ihrer Heimat ein Fernsehstar waren.

Skármeta: Dank der TV-Sendung El show de los libros, die ich nach dem Ende der Diktatur in Chile auf die Beine gestellt hatte. Als ich aus Deutschland zurückkam, war alles Schöne aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden: Gute Filme, das Theater, die Literatur spielten in den Medien keine Rolle, überall war Banales, Hässliches, Dummes, es ging nur um Konsum. Nach der Diktatur hatten die Menschen Angst vor allem, was sie nicht verstanden. Da war es meine Form der politischen Arbeit: eine Sendung aufzubauen, die nach den Gesetzen der Medien gar nicht funktionieren durfte - doch dann lief sie zehn Jahre lang mit großem Erfolg.

sueddeutsche.de: Auch in Ihren Romanen vermischen Sie immer wieder Hoch- und Populärkultur, neben den großen Menschheitsfragen finden sich Verweise auf Fußball, Comics, Pop-Musik.

Skármeta: Ich liebe den Funken, der ensteht, wenn die klassische Kultur und die Subkultur sich aneinander reiben. Es gab da einen Schlüsselmoment in meiner Schulzeit, während einer Aufführung von Romeo und Julia. In einer Szene liegt Romeos bester Freund Mercutio nach einem Duell im Sterben. Als Romeo ihn fragt, ob die Wunde groß sei, antwortet Mercutio: "Nicht so tief wie ein Brunnen, noch so weit wie eine Kirchentüre, aber es reicht eben hin. Fragt morgen nach mir, und ihr werdet einen stillen Mann an mir finden." Dass Shakespeare ausgerechnet einem jungen Burschen in diesem Moment derartige Wörter und Bilder in den Mund legt - welch würdevolle Art zu sterben!

sueddeutsche.de: In Ihrem Welterfolg Mit brennender Geduld (Der Briefträger von Neruda) wiederholt der Dichter kurz vor seinem Tod Mercutios Worte.

Skármeta: In diesem Roman, in dem ein einfacher Briefträger und ein hochgebildeter Schriftsteller, die poetische und die bäuerliche Liebe zusammenkommen, ist der Funken auf das Publikum übergesprungen.

sueddeutsche.de: Ihre Erzählung gipfelt im chilenischen Militärputsch, auf den Nerudas Tod folgt - auch in der realen Geschichte Chiles. Stirbt mit dem Tod der Demokratie wirklich die Poesie?

Skármeta: In der Diktatur muss sich die Kunst verstecken. Eine echte, lebhafte und nicht nur scheinbare Demokratie fördert dagegen die Teilhabe. Ich halte zwar nichts von der sogenannten engagierten Kunst, vom Künstler, der die vermeintliche Wahrheit entdeckt hat und sie unters Volk bringen will. Dennoch hat jede Form von Kunst indirekt eine unvermeidbare politische Dimension.

sueddeutsche.de: Wie äußert sich dieser indirekte politische Charakter?

Skármeta: In Chile verlangen die Politiker immer wieder, den Blick in die Zukunft zu richten. Nach dem Motto: "So tragisch die Vergangenheit auch war, jetzt heißt es: Weitermachen!" Vor diesem Hintergrund haben junge chilenische Filmemacher, die die Diktatur gar nicht mehr miterlebt haben - Pablo Larraín, Andrés Wood, Sebastián Silva - große Filme geschaffen. Die demokratische Gesellschaft ist keine Utopie, sondern eine bereits exisiterende Errungenschaft. Die Demokratie strebt nicht nach dem Paradies auf Erden, nicht einmal nach der Gleichheit aller Menschen auf allen Ebenen. Sie ist immer noch verbesserungsfähig, gerade weil sie nicht perfekt ist und keinen Anspruch auf Perfektion erhebt.

sueddeutsche.de: Zuletzt hat sich Chile bei einem höchst unpolitischen Eregnis seiner jungen Demokratie vergewissert. Die Euphorie über die gelungene Rettung der Bergleute hatte staatstragenden Charakter: Menschen im ganzen Land schwenkten Fahnen, die Bergleute schmetterten unter Tage die Nationalhymne - für Außenstehende nahm die Nationaleuphorie bisweilen befremdliche Züge an.

Skármeta: In Chile wird man permanent mit einer Eigenwerbung unter dem Slogan "¡Podemos!" (Deutsch: Wir schaffen das!, oder Englisch: Yes, we can!) konfrontiert. Chile ist landschaftlich wunderschön, jedoch zu einem hohen Preis: Wir werden ständig von Naturkatastrophen wie Erdbeben, Tsunamis - vor kurzem sogar beiden auf einmal - heimgesucht. Auf dem Bergbau und dem Export von Bodenschätzen baut unser gesamter Wohlstand auf. Die Selbstvergewisserung in "¡Podemos!" ist Überlebensstrategie.

sueddeutsche.de: Es störte sich also niemand daran, dass der Präsident persönlich am Grubenausgang Hände schüttelte?

Skármeta: Es gibt Kritiker, ich gehöre aber nicht dazu. Das war eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung und es war richtig, dass Sebastián Piñera bei der Befreiung persönlich anwesend war. Mit seiner internationalen PR-Tour im Anschluss hat er es allerdings zu weit getrieben. Piñera erinnert mich an einen Komiker, der immer wieder denselben Witz erzählt, nur weil er einmal gut ankam.

sueddeutsche.de: Bei seinem Deutschland-Besuch hat Piñera mit einer anderen Art von Fauxpax von sich Reden gemacht: Im Schloss Bellevue schrieb er die historisch belastete Verszeile "Deutschland über alles" ins Gästebuch.

Skármeta: Das ist seiner historischen Ignoranz geschuldet. Obwohl das manche behaupten, ist Piñera gewiss kein Faschist, beim historischen Referendum von 1989 hat er gegen Pinochet gestimmt. Die Episode im Schloss Bellevue spiegelt den Zustand der jetzigen Regierung wider, übrigens der ersten demokratisch gewählten Mitte-rechts-Regierung Chiles seit 1958. Die meisten ihrer Mitglieder haben keine politische Erfahrung, sie kommen aus der Wirtschaft wie Piñera selbst (Anm. d. Red.: der Harvard-Absolvent und Multimillionär Piñera, Miteigentümer der Fluggesellschaft LAN, gilt als einer der wohlhabendsten Männer Lateinamerikas). Bei der Kabinettsbildung hatte Piñera Schwierigkeiten, Leute zu finden, die sich aufstellen lassen wollten - das Ministergehalt ist im Vergleich zu ihrem normalen Job ein Witz.

sueddeutsche.de: Wird die Regierung die nach dem Minenunglück gemachten politischen Versprechen einhalten?

Skármeta: Zumindest dürfte es ihr sehr schwer fallen, die angekündigte Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Kumpel zurückzuziehen. Die ganze Welt guckt auf Chile, weil der Präsident selbst den Rettungserfolg an die große Glocke gehängt hat.

sueddeutsche.de: Wo stehen Sie politisch?

Skármeta: Nach meiner Rückkehr aus Deutschland werde ich mich in Chile im Rahmen meiner Möglichkeiten für eine Rückkehr des Mitte-links-Bündnisses an die Regierung engagieren, das gebietet die politische Vernunft. Nach einem Vorfall wie dem in Bellevue reicht es nicht aus, wenn der Außenminister lapidar erklärt, Piñera habe bei den Deutschen gut ankommen wollen. Eine derartige Angelegenheit hat größere Bedeutung und schadet unserem Ruf. Gleichwohl ist mir bewusst, dass die Politik ihren eigenen Spielregeln folgt. Künstler wollen meistens alles sofort, dieser utopische Anspruch auf Vollkommenheit bringt oft aber die gesellschaftliche Stabilität in Gefahr.

sueddeutsche.de: Gehört auch die lückenlose Aufarbeitung des Pinochet-Terrors zu dieser Utopie? Die Opfer des Regimes warten bis heute auf eine offizielle Entschuldigung.

Skármeta: In Chile gibt es einen weitverbreiteten Pragmatismus. In den neunziger Jahren erstellte erstmals eine Kommission einen Bericht über die Verbrechen der Militärdiktatur, wenngleich mit geschwärzten Namen der Täter. Der erste demokratisch gewählte Präsident seit dem Militärputsch, Patricio Aylwin, versprach im Fernsehen unter Tränen: Es werde Gerechtigkeit geben - jedoch im Rahmen des Möglichen. Auf praktisch jede Frage zu Chile kann man mit ja oder nein antworten - Chile ist ein Territorium der Zweideutigkeit.

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