Schottisches Unabhängigkeitsstreben:Wie man eine Nation schafft, indem man sie in Karos hüllt

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Nicht das Brauchtum, sondern der Katalog bestimmte das Muster: der Kilt.

(Foto: Shaun Curry/AFP)

Nur wenige Nationen der Welt leben mit einem so erfolgreich manipulierten Image wie die Schotten. Doch auch wenn die "Scottishness" erfunden ist - sie befeuerte den Drang zur politischen Unabhängigkeit.

Von Alexander Menden, London

Am 15. August 1822 landete Georg IV., König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, König von Hannover, in Edinburgh. Zwei Tage später - es lag bereits eine Reihe bombastischer, vom Zeremonienmeister Sir Walter Scott choreografierter Folklore-Veranstaltungen hinter ihm - empfing der Monarch im Palast von Holyrood die Hautevolee der Edinburgher Gesellschaft.

Zu diesem Anlass trug Georg ein "Highland"-Kostüm aus Samt, Seide und Kaschmir, das er beim Schneider George Hunter geordert hatte. Hunter hatte nur eine schemenhafte Ahnung davon, wie ein Highlander sich kleidete. Georgs "Great Kilt" war in einem knallroten Karomuster gehalten und, dem Geschmack des Monarchen entsprechend, mit reichlich Broschen und Juwelen verziert. Die Beine des fettsüchtigen Königs steckten in rosafarbenen Strumpfhosen.

Vermeintlich wilde Highlands

Heute wird das Muster überall in Schottland als traditioneller "Royal Stuart Tartan" verkauft. Die Kurzversion des Schottenrocks, der philibeg, gilt wie der Tartan, der den Clan seines Trägers anzeigt, als uraltes Emblem kaledonischer Identität. In Wirklichkeit sind beide Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts, und sie verdanken ihre Etablierung dem Besuch des Hannoveraner Königs im Jahr 1822.

Nur wenige Nationen der Welt leben mit (und von) einem so sorgfältig und erfolgreich manipulierten Image wie die Schotten. Das beginnt schon bei der vermeintlich naturbelassenen Wildheit der Highlands, die tatsächlich eine im Laufe der Jahrtausende vom Menschen geformte Landschaft sind. Beim Wort "Highlands" denkt man an unberührte, windgepeitschte Heidelandschaften. Doch im Mittelalter stand hier eines der dichtesten Waldgebiete Europas.

Rodung für Schiffsbau und Schafszucht sowie extremer Weidedruck durch eine Überfülle an Jagdwild, das sich der Adel zum Zeitvertreib hielt, machten eine monokulturelle Torfwüste aus dem Caledonian Forest. Noch zur Römerzeit bedeckte er geschätzte 15 000 Quadratkilometer Fläche. Nur ein Prozent des Bestandes hat überlebt. Nicht unähnlich verhält es sich mit Tracht und Selbstbild der Schotten: Was wir unter "Scottishness" verstehen, gleicht in vielem der künstlichen Wiederaufforstung eines abgeholzten Urwalds.

Andrew Fletcher of Saltoun war Schotte durch und durch. Als Mitglied des bis dato letzten unabhängigen schottischen Parlaments trat er 1707 als entschiedener Gegner des "Act of Union" auf, der politischen Vereinigung mit England. Ein Patriot, den auch Alex Salmond gern zitiert, Chef der Scottish National Party und wortmächtiges Sprachrohr der Unabhängigkeitskampagne.

"Highland-Kleidung" per Gesetz verboten

Dieser Andrew Fletcher hielt die Highlander, die heutzutage als Inbegriff des Schottentums gelten, für "erbärmlich, wertlos und verachtenswert". Ungewaschene, halbwilde Viehdiebe - das war über Jahrhunderte das Bild, das sich die Lowlanders von ihren Landsleuten im Norden machten. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Engländer, die sich allen Schotten kulturell weit überlegen wähnten, diese Einschätzung teilten.

Das war der Status quo, als der Herzog von Cumberland, Onkel Georgs IV., den Aufstand der Highlander unter Prinz Charles Stuart gegen das Haus Hannover blutig beendete und damit die binnenpolitische Macht der Clans faktisch zerschlug. Nach der entscheidenden Schlacht von Culloden 1746 war das Tragen von "Highland-Kleidung", besonders des 1530 erstmals erwähnten karierten Tartan-Stoffs, für mehr als drei Jahrzehnte gesetzlich verboten.

Nachdem dieser willkürliche und völlig sinnlose "Dress Act" 1782 wieder aufgehoben worden war, kleidete sich so gut wie niemand mehr in die lange, um den Leib gewundene Decke, den Great Kilt, der sich im Spätmittelalter aus wollenen Umhängen entwickelt hatte. Die Einzigen, die Tartans trugen, waren die Hannover-treuen Highland-Bataillone, denen jeweils ihre eigenen Regimentsfarben zugeordnet waren. Sie erwiesen sich als schlagkräftig, was den europaweiten Glauben förderte, ihre Kampfkraft sei Resultat des ebenso wilden wie standhaften gälischen Charakters.

Wurzel der Keltenbesessenheit

Kein Kleidungsstück ist so sehr mit diesem Bild des kriegerischen Naturburschen aus den Highlands verbunden wie der Kilt. Für schottische Brauchtumspfleger ist daher schwer erträglich, worauf die wenigen schriftlichen Zeugnisse über die Ursprünge des Schottenrocks hindeuten: Der Kilt, wie wir ihn heute kennen, wurde von einem Engländer erfunden.

Thomas Rawlinson, ein Fabrikant aus Lancashire, gründete 1727 eine Eisenhütte im nordschottischen Glengarry. Er schätzte den Great Kilt als günstige Kleidung für seine schottischen Arbeiter. Doch die Wickeldecke war hinderlich beim Hantieren mit geschmolzenem Metall. Der Unternehmer beauftragte einen Militärschneider in Inverness damit, den oberen Teil des Great Kilt vom unteren zu trennen: Der praktische philibeg war geboren. Rawlinson selbst trug ihn gern, sein Geschäftspartner Ian MacDonell ebenfalls. Und da MacDonell ein Clan Chief war, taten seine Clansmen es ihm gleich. Nach der Aufhebung des Dress Act setzte sich der philibeg als Tracht durch.

Gut drei Jahrzehnte nach Rawlinsons Designidee war die ursprüngliche Highland-Kultur unterdrückt, gälische Dichtung und Musik waren als primitiv geächtet. Zugleich entstand jedoch ein neuer, von diesen Wurzeln völlig abgekoppelter literarischer Kelten-Kult. Der schottische Dichter James Macpherson veröffentlichte 1761 das Versepos "Fingal".

Angeblich Übersetzungen aus mündlich überlieferten, gälischen Gesängen des mythischen Barden Ossian, löste es einen europaweiten Kult aus. Napoleon und Goethe ließen sich von der als archaisch empfundenen Sprachgewalt Ossians mitreißen. Der Barde wurde gleichsam zur literarischen Gründerfigur einer Keltenbesessenheit, die nicht zuletzt in Deutschland ungebrochen ist, wo sie heute als eine Art unbelastetes Ersatzgermanentum herhalten muss.

Es gab Zeitgenossen, die Macpherson als Betrüger verdammten, und sie hatten recht: Der Autor hatte sich "Fingal" ausgedacht und damit eine folgenreiche, ganz sicher aber die erfolgreichste Fälschung der Literaturgeschichte geschaffen. Von ihrer Wirkung profitierte auch der als schottischer Nationaldichter gefeierte Robert Burns.

Highländer-Aufstände romantisch gewendet

Mit seinen 1786 erschienenen "Poems, Chiefly in the Scottish Dialect", traf Burns den Nerv der Zeit. Die "erdige", lautmalerische Sprache dieser Gedichte begeisterte ein Ossian-seliges Literatur-Establishment, das im Volksliedton das Antidot zum überfeinerten Gros zeitgenössischer Lyrik sah. Mit der Etablierung des Scots-Dialekts als Schriftsprache versprach er, der angeschlagenen schottischen Nationalidentität auf die Beine zu helfen. Burns' kluge Selbstvermarktung als "Pflüger-Poet" ohne formale Bildung leitete seine Seligsprechung als Wahrer der schottischen Zunge und Fackelträger schottischen Nationalbewusstseins ein.

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war Schottland zum ursprünglichen Sehnsuchtsort und Tourismusziel für die frühindustrialisierten Engländer geworden. Die Highlander-Aufstände verklärte man jetzt als Aufbäumen einer stolzen Kriegernation, den Schotten zum Inbegriff des königstreuen Naturmenschen.

Keiner verkaufte dieses romantische Schottlandbild so erfolgreich, formte es so stark mit und glaubte selbst so fest daran wie Sir Walter Scott. Der größte Bestsellerautor seiner Zeit war ein entschiedener Verfechter der Union mit England und Erbe der schottischen Aufklärung. Zugleich feierte er aber auch in Romanen "Rob Roy" und "Waverley" Schotten, die ein Jahrhundert zuvor den Anspruch des Hauses Stuart verteidigt hatten, und zwar gegen jene Hannoveraner, zu denen auch Georg IV. gehörte. Sir Walter sah darin keinen Widerspruch.

Walter Scotts Vision von "Scottishness"

Scott war 1820 ein Mitbegründer der Celtic Society of Edinburgh, bei der sich junge Edinburgher in Kilts und mit Breitschwertern bewaffnet zu feuchtfröhlichen Kostümdinners trafen. Ein weiterer Protagonist der Society, Colonel David Stewart of Garth, darf als Vater der modernen Tartantradition gelten.

Er kannte die Tartans als Regimentsfarben und erklärte sie rückwirkend zu "unverwechselbaren Mustern verschiedener Clans, Stämme, Familien und Distrikte". Diese Behauptung, für die er keinen Beweis hatte, legte er in seinem Standardwerk "Skizzen der Charaktere, Bräuche und gegenwärtigen Umstände der Highlander Schottlands" dar. Die weitgehend erfundene Studie lag zahlreichen weiteren Büchern über Clans, Kilts und Tartans zugrunde.

Stewarts Buch erschien 1822, im selben Jahr, in dem der von Walter Scott geplante Besuch Georgs IV. vorbereitet wurde. Scott war es sehr darum zu tun, möglichst viele Ehrengäste in Tartans gewandet zu sehen. Die Weberei William Wilson & Son in Bannockburn, die schon länger die schottischen Regimenter belieferte, hatte bereits ein Musterbuch vorbereitet.

Für jeden Clan wurde ein Karo entworfen, das die Clan-Chiefs dann als authentisch beglaubigten und zum Empfang des Königs trugen. Die Weberei war allerdings so überwältigt von der Nachfrage, dass es zu Überschneidungen kam. So bekam Cluny Macpherson (ein Nachfahre des Ossian-Erfinders) einen "Macpherson"-Tartan geliefert, der schon als "Kidd"-Tartan an einen Mister Kidd gegangen war. Im Musterbuch hatte er die prosaische Nummer 155 getragen.

William Curtis, ein ebenfalls nach Edinburgh eingeladener Londoner Zuckerbäcker und Westminster-Abgeordneter, trug beim Empfang in Holyrood denselben Royal Stuart Tartan wie der König. Das Treffen der beiden beleibten Herren habe "Sir Walters keltifiziertes Gepränge einen Hauch von Lächerlichkeit und Karikatur" verliehen, notierte Scotts Schwiegersohn und Biograf John Gibson Lockhart. Doch diese "Halluzination" habe "so vollständig von allen Besitz ergriffen", so Lockhart weiter, dass es niemandem aufzufallen schien, wie hier die nachträglich erfundene Volkstracht der Highland Clans, die "eine kleine und fast immer unwichtige Gruppe der schottischen Bevölkerung gewesen waren" zum Stolz ihrer Nation erklärt wurde.

Von der domestizierten Folklore zur Identität

Walter Scotts Vision treuer, kämpferischer, heimatliebender "Scottishness" wurde bald Gemeingut. Ihr volkstümlicher Glamour war so verführerisch, dass viele Schotten sie nach und nach übernahmen. Und das nicht nur, weil sie dem Tourismus förderlich war, sondern weil sie ihnen eine Identität verlieh, mit der sie sich deutlich vom übermächtigen Nachbarn England abgrenzen konnten. Wie die whiskyseligen "Burns Suppers" am 25. Januar jeden Jahres gehören Kilts und Familientartans zur schottischen Selbstvergewisserung.

Welchen Ausdruck die schottische Identität findet, ist dabei übrigens weniger entscheidend als die Tatsache, dass sie nie aufgehört hat, als eigenständige Identität zu existieren. Was 1822 endgültig zur domestizierten Folklore, zum Amüsement eines dekadenten englischen Monarchen geronnen zu sein schien, befeuerte jetzt den Drang zur vollständigen politischen Unabhängigkeit Schottlands. Eine wahrhaft romantische Wendung. Ob sie den romantischen Erzunionisten Sir Walter Scott gefreut hätte, darf man bezweifeln.

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