Nach einer Stunde dreht Olaf Scholz den Spieß um. Normalerweise funktioniert so ein Kanzlergespräch in der Weise, dass aus dem Publikum Fragen gestellt werden und Scholz antwortet. Dem Bundeskanzler kommt das in der Regel gelegen, weil er findet, dass Bürgerinnen und Bürger die besseren Fragen stellen als Journalisten. Diesmal hat auch Scholz eine Frage.
Als er am Mittwochabend unter einem Zeltdach im Hof der Ufa-Fabrik, eines Kulturzentrums im Berliner Stadtteil Tempelhof, Rede und Antwort steht, ist es bereits sein 16. Kanzlergespräch. Es ist allerdings sein erstes seit den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, bei denen die AfD einmal stärkste und einmal zweitstärkste Kraft geworden ist.
Der Kanzler weiß beim Streit in der Ampel nicht mehr weiter
Was das mit der Ampel macht, stellt sich an diesem drückend heißen Berliner Abend als Frage heraus, die nicht nur Journalistinnen und Journalisten interessiert. Wie denn die Koalition gedenke, ihre Außendarstellung zu verbessern, wird Scholz von einem Berliner gefragt. Das sei ja mitunter wie bei kleinen Kindern. Wenn der Kanzler etwas sage, dann sage doch Finanzminister Christian Lindner von der FDP das Gegenteil.
Na ja, so sei das bisher noch nicht vorgekommen, hält der SPD-Kanzler erst einmal dagegen. Aber was das Problem der Streitigkeiten ist seiner Koalition angehe, mag Scholz nichts mehr beschönigen. „Die Wahrheit ist: Sie haben recht“, sagt er. Und dann ist er es, der fragt: „Welches Patentrezept haben Sie? Ich frage für einen Freund.“
Scholz gewinnt einen Lacher, aber seine Frage lässt vergleichsweise tief blicken ins Kanzlergemüt. Der Regierungschef hat auch keine Idee mehr, wie er die Gepflogenheiten in seiner Koalition an den Ernst der Lage anpassen könnte. Er spricht nicht von einer „Übergangskoalition“ wie Grünen-Chef Omid Nouripour, aber so weit entfernt davon ist Scholz nicht mehr. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite zeigt sich, als Scholz nach seiner Antwort auf die Wahlergebnisse im Osten gefragt wird und auch sagen soll, wie er die irreguläre Migration in den Griff kriegen will. Er wolle „gar nicht darum herumreden, das Wahlergebnis bedrückt mich sehr“, sagt er.
Bei der Migration komme „noch mehr“, kündigt Scholz an
Dann wird Scholz grundsätzlich. Zukunftsangst und Unsicherheit spielten eine große Rolle, sagt er. Man lebe „in Zeiten unglaublicher Umbrüche“. Die Menschen wollten wissen: „Und ich? Wo bleibe ich da?“ Man müsse „durch die Tat beweisen, dass wir es hinkriegen“. Unglaublich viele Entscheidungen seien gefällt worden, aber das sei eben wie eine „Dampflok, die anfahre“. Die Ampel tue viel, argumentiert Scholz. Es entfalte eben erst langsam Wirkung.
Das ist die „Wird schon“-Seite des Kanzlers. Er wirkt auf fast irritierende Weise frohgemut. Keinesfalls wie einer, der über das Ende seiner Koalition nachdenkt oder darüber, die Kanzlerkandidatur einem anderen zu überlassen.
Bei der Migration sei nun wichtig zu zeigen, „dass wir das managen können“, sagt Scholz. „Das ist das, worum ich mich bemühe.“ Auf konkrete Punkte geht Scholz kaum ein. Schon gar nicht auf die Frist, die ihm CDU-Chef Friedrich Merz gestellt hat. Bis Dienstag will der Oppositionsführer eine verbindliche Erklärung, „dass der unkontrollierte Zuzug an den Grenzen gestoppt wird und diejenigen, die immer noch kommen, an den Grenzen in Deutschland zurückgewiesen werden“, lässt Merz von einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg an der Havel aus wissen.
Man habe, sagt Scholz in Tempelhof, schon viel auf den Weg gebracht. Und er verspricht: „Da kommt jetzt noch mehr.“ Ob das auch für die von Merz verlangten Zurückweisungen gilt, bleibt offen. Ob das überhaupt rechtlich geht, will die Bundesregierung jetzt prüfen.
Als ein Herr mit blauer Baseballkappe die galoppierenden Mietpreise mit der Migration in Zusammenhang bringt, widerspricht Scholz. Die Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt gebe es schon länger, betont er: „Das hat nichts zu tun mit Zuwanderung.“ Von den Männern und Frauen, die vom Berliner Tagesspiegel ausgelost wurden für die Teilnahme, erntet Scholz dafür Applaus. Hier zumindest ist die Stimmung eher freundlich und, das wird Scholz ahnen, nicht unbedingt repräsentativ.