Schießbefehl für DDR-Grenzer:Aus dem Geheimbezirk des Schreckens

Der jetzt in die Schlagzeilen geratene Schießbefehl gegen DDR-Flüchtlinge überrascht nicht - doch er verdeutlicht die moralische Verwahrlosung des früheren deutschen Staates.

Gustav Seibt

An der Staatsgrenze der DDR wurden Hunderte Menschen verwundet und erschossen. Die Grenztruppen des Arbeiter- und Bauernstaates haben auf Frauen und Jugendliche gefeuert, und sie haben Schwerverletzte langsam verbluten lassen.

Wer beim versuchten Grenzübertritt erwischt und gestellt wurde, musste, bevor er von der Bundesrepublik freigekauft wurde, mit Haft unter Bedingungen rechnen, die man nur als Folter bezeichnen kann. Die Gedenkstätte im ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen am Rand von Berlin hat die Szenerie eines Schreckens konserviert, an dem vor allem der sadistische Einfallsreichtum im Detail abstößt.

In den Zellen gab es Licht nur durch Glasbausteine. Man konnte also von der Außenwelt nichts erkennen; nicht einmal das Stück Himmel, das so vielen Gefangenen zu allen Zeiten ein winziger Trost war, ließ sich wahrnehmen.

Man durfte nachts nur auf dem Rücken liegen und sich untertags nicht anlehnen; wurde man aus der Zelle geholt, musste man vor dem Wachpersonal hergehen, um keine Gesichter zu sehen. So lebten die Gefangenen der Staatssicherheit oft jahrelang: ohne Außenwelt, ohne Gesichter.

All das war seit jeher bekannt, wenn man es nur wissen wollte. Die Staatsführung der DDR allerdings hat die Existenz eines Schießbefehls immer bestritten. Da aber geschossen wurde, musste es wohl mindestens erlaubt sein.

Geheimbezirk des Schreckens

Insofern mag man fragen, was sich an der Wahrnehmung des Unrechts eigentlich ändert, wenn jetzt doch ein schriftlicher Befehl zum Gebrauch der Schusswaffe bekannt wird. In einer Dienstanweisung vom 1. Oktober 1973 heißt es: "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen."

Diese Anweisung richtete sich an Einheiten der Staatssicherheit, die unter den regulären Grenztruppen "normalen" Dienst taten; sie entstammt also dem Geheimbezirk des Schreckens im Inneren, der die DDR genauso zusammenhielt wie die mit Waffengewalt geschützte Grenze von außen. Hier sieht man, wie beides zusammengehörte.

Es gibt, das ist eine alte psychologische Wahrheit, Dinge, die man leichter tut als ausspricht. Die Vernichtung der Juden durch die Nazis fand unter dem Schleier beschönigender Sprachregelungen statt, durch die Spuren verwischt werden sollten.

Erst seit kurzem weiß man aus einer Aufzeichnung Himmlers, wann der definitive Beschluss zur Endlösung gefallen sein dürfte, nämlich im Januar 1942 - jahrelang herrschte die Meinung, die Judenvernichtung sei ohne Führerbefehl ins Werk gesetzt worden.

Doch ganz ohne Papier geht es offenbar nicht, und am Ende findet sich doch jemand, der auch sagt, was man tut. Der Stasi-Apparat fasste in Worte, wozu er bereit war: auf Frauen und Kinder zu schießen. Das ist, jenseits möglicher juristischer Konsequenzen, eine wichtige Mitteilung über die DDR und das Maß ihrer moralischen Verwahrlosung.

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