Süddeutsche Zeitung

Schicksal entführter Mädchen in Nigeria:Verschleppt, versklavt, zwangsverheiratet

  • Vor genau einem Jahr entführte die Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria mehr als 200 Schülerinnen. Die Mädchen sind noch immer verschwunden.
  • In einem Bericht zur Lage in Nigeria weist Amnesty International auf einige mögliche Aufenthaltsorte der Schülerinnen hin. Vermutlich sind viele von ihnen zwangsverheiratet.
  • Amnesty wirft Boko Haram Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Von Markus C. Schulte von Drach

Genau ein Jahr nach der Entführung von 276 Schülerinnen durch die Terrororganisation Boko Haram in Nigeria veröffentlicht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen Bericht, der Hinweise auf ihr Schicksal enthält.

Die Mädchen im Alter von 15 bis 18 Jahren waren in der Nacht vom 14. zum 15. April 2014 in der Stadt Chibok im Nordosten Nigerias verschleppt worden. 219 von ihnen sind bis heute verschwunden. Die Entführung wurde zum Symbol für das brutale Vorgehen von Boko Haram. Die Massenentführung erregte international große Aufmerksamkeit. Etliche Länder boten Nigeria Hilfe bei der Suche nach den Schülerinnen an. An der Kampagne "#BringBackOurGirls" nahmen weltweit Prominente bis hin zu Michelle Obama teil.

Für ihren Bericht "Our Job is to shoot, slaughter and kill" hat Amnesty International etliche Augenzeugen zu den von Boko Haram seit Anfang 2014 in Nigeria verübten Gewalttaten befragt.

So berichtete eine vor den Terroristen geflohene Frau den Menschenrechtlern, sie sei im Oktober 2014 verschleppt worden und hätte in der Stadt Gwoza einige der verschleppten Mädchen aus Chibok, aber auch aus anderen Gemeinden gesehen. Ein weiteres Mädchen sagte, sie wäre mit etlichen der Schülerinnen in einem Haus in Gwoza festgehalten worden.

In Militärkreisen geht man Amnesty zufolge offenbar davon aus, dass die Schülerinnen in drei oder vier Gruppen aufgeteilt wurden und in verschiedene Boko-Haram-Lager gebracht wurden. Einige sollen sich im Sambisa-Waldreservat im Osten des Landes befinden. Der Nichtregierungsorganisation Borno Yobe People's Forum zufolge haben hier Massenhochzeiten zwischen verschleppten Schülerinnen und Boko-Haram-Kämpfern stattgefunden.

Andere Schülerinnen wurden angeblich zum Tschadsee im Nordosten gebracht. Jeweils eine weitere Gruppe soll jenseits der Grenzen zum Tschad und zu Kamerun festgehalten werden.

Mehr als 2000 Frauen und Mädchen verschleppt

Boko-Haram-Anführer Abubakar Shekau hatte in online veröffentlichten Videos behauptetet, die Mädchen würden verkauft und verheiratet. Den von AI gesammelten Zeugenaussagen zufolge besteht kaum noch Anlass an den Aussagen zu zweifeln.

Bereits im Februar hatten drei Mädchen, die Boko Haram entkommen waren, der Nachrichtenagentur AP berichtet, was ihre Entführer ihnen von den Schulmädchen aus Chibok erzählt hatten. Demnach behaupteten die Kämpfer, die Mädchen hätten den Islam akzeptiert und würden lernen zu kämpfen, nachdem sie ausgepeitscht und geschlagen wurden. Ob die Milizionäre damit nur einschüchtern wollten, ist unklar.

Schätzungen von Amnesty International zufolge ist die Zahl der verschleppten Frauen und Mädchen insgesamt höher als 2000. Allein zwischen November 2014 und Februar 2015 wurden offenbar in Regierungsbezirk Gwoza 500 Frauen und 1000 Kinder, vor allem Mädchen verschleppt. Sie wurden gezwungen, Boko-Haram-Kämpfer zu heiraten. Auch aus dem Ort Damasak nahe der Grenze zu Niger entführte Boko Haram im März etwa 400 Frauen und Mädchen.

Aber auch Männer und Jungen werden offenbar entführt und als Kämpfer und Kindersoldaten in die Terrormilizen gepresst.

Mord, Folter, Vergewaltigung, Sklaverei

Mehr als 5500 Menschen haben die Terrormilizen bis Ende März 2015 getötet - mehr als 800 durch 46 Sprengstoffanschläge und mindestens 600 allein bei der Eroberung der Stadt Gwoza im August 2014. Danach machte Boko Haram Jagd auf Einwohner der Stadt, die in die Berge geflohen waren.

Noch im Januar konnten die Terroristen die Stadt Baga erobern, obwohl die Militäreinheiten der Stadt gewarnt wurden. Hunderte Zivilisten wurden erschossen, mehr als 3700 Gebäude beschädigt oder zerstört. Opfer von Boko Haram werden vor allem "Ungläubige" wie Christen, aber auch Muslime, die nicht bereit sind, sich Boko Harams fundamentalislamischem Diktat zu unterwerfen. 1,2 Millionen Menschen, darunter 800 000 Kinder, sind dem UN-Kinderhilfswerk Unicef zufolge auf der Flucht.

In ihrem Bericht wirft Amnesty Boko Haram Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Gegen die Mitglieder solle ermittelt werden wegen Mord, Gefangennahme, Verfolgung, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Gewalt, sexuelle Sklaverei und Zwangsheirat.

Nigerianische Regierungstruppen haben gemeinsam mit Soldaten aus Kamerun, Tschad und Niger im Februar einige große Städte befreien können - darunter Gwoza. Amnesty warnt allerdings, es sei " zu früh, um sagen zu können, ob Boko Haram stark genug geschwächt wurde, um das Leben und das Eigentum der Zivilisten im Nordosten [von Nigeria] nicht mehr zu bedrohen".

Auch müsste Nigerias Regierung alle legalen Mittel einsetzen, um endlich die Sicherheit der Zivilisten zu gewährleisten und den Opfern der Menschenrechtsverletzungen zu helfen.

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