Süddeutsche Zeitung

Schengen:Verlängerung ausgeschlossen

Immer wieder hat Berlin die Verlängerung der Grenzkontrollen beschlossen. Offenbar wurde dabei gegen Regeln verstoßen: Der Schengen-Kodex erlaubt sie nur unter strengen Bedingungen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Die derzeit an der Grenze zu Österreich durchgeführten Grenzkontrollen stehen rechtlich auf wackeligen Beinen. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung verstößt die am 12. Mai vorgenommene sechsmonatige Verlängerung dieser Kontrollen durch Deutschland und andere EU-Staaten gegen den Schengener Grenzkodex. Damit könnten aber auch die von Bundesinnenminister Horst Seehofer vorbereiteten Zurückweisungen von Migranten, die in anderen EU-Staaten schon registriert waren, infrage gestellt werden, weil sie keine Rechtsgrundlage hätten. Denn sie wären nach Angaben der EU-Kommission EU-rechtlich nur dann zulässig, wenn die Bundesregierung regelkonforme Grenzkontrollen durchführen würde.

Der 26 Staaten umfassende Schengenraum ist eigentlich ein Gebiet ohne Binnengrenzen. Kontrollen sind nur ausnahmsweise, vorübergehend und unter strengen Bedingungen zulässig. So können sich die Mitgliedstaaten etwa auf "anhaltende schwerwiegende Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen" berufen. Mit Verweis auf die Lage in Griechenland taten dies Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen zwei Jahre lang bis Ende 2017. Weil eine weitere Verlängerung mit dieser Begründung nicht möglich gewesen wäre, mussten sie den Grund wechseln. Fortan bezogen sich die Staaten allgemein auf die "Sicherheitslage in Europa" und Bedrohungen durch herumreisende Asylbewerber. Diese Begründung darf aber nur maximal sechs Monate lang herangezogen werden. Sie lief am 11. Mai aus. Die seither vorgenommenen Grenzkontrollen sind nach Ansicht von Experten daher illegal. "Man muss nur die Fristen im Schengener Grenzkodex zusammenrechnen, dann ergibt sich das eindeutig", sagt der Asyl- und Europarechtsexperte Jorrit Rijpma von der Universität Leiden.

Die EU-Kommission erklärte auf Anfrage lediglich, sie sei "in engem Kontakt mit den betreffenden Mitgliedstaaten und beobachte die Umsetzung der Kontrollen". Die Frage, wie sie die Fortführung der Kontrollen und ihre Begründung beurteile, ließ sie unbeantwortet. In der Behörde, die über geplante Verlängerungen informiert werden muss, hieß es, es sei nicht ihre Aufgabe, die Verlängerung zu "billigen". Deutschland habe aber versichert, dass die laufende Verlängerung die letzte sein werde.

In seinem Notifizierungsschreiben an Brüssel vom 12. April, das der SZ vorliegt, erklärt Innenminister Horst Seehofer, die Grenze zu Österreich sei weiterhin "Brennpunkt illegaler Sekundärmigration in das Bundesgebiet". Unerlaubte Einreisen seien strafbewehrt. "Das weiterhin erhebliche Ausmaß dieser Straftaten und Schleusungshandlungen stellen Gefahren für die Öffentliche Sicherheit und Ordnung, auch im Kontext etwaiger Begleit- und Folgekriminalität, dar." Deshalb habe er die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen auf Grundlage von Artikel 25 "entschieden und neu angeordnet". Offensichtlich ist Seehofer bewusst, dass eine Verlängerung rechtlich ausgeschlossen wäre - daher die "Neuanordnung", die mit den Innenministern der betroffenen Staaten abgesprochene wurde. Geist und Text des Kodex, eines EU-Gesetzes, wurden damit durch nationale Entscheidungen übergangen.

Das Argument der Bundesregierung: Die Mitgliedstaaten müssten in der Lage sein, über die Frage der Grenzkontrollen angesichts einer unveränderten Gefahrenlage aus eigener Beurteilung zu entscheiden. Daneben wird in Berlin wie in Brüssel darauf verwiesen, dass eine im vergangenen Jahr von der Kommission vorgeschlagene Änderung des Grenzkodex eine Verlängerung temporärer Kontrollen auf bis zu drei Jahre möglich machen würde. Die EU-Kommission, die dringend zurück zum völlig kontrollfreien Schengen möchte, hatte dies vor allem auf deutschen und französischen Wunsch hin empfohlen. Allerdings wird über diese Änderung derzeit in Brüssel erst beraten, das EU-Parlament hat sie noch nicht gebilligt. Die Kommission ist der Ansicht, dass sich die von den Mitgliedstaaten erstrebte Sicherheit auch durch andere Maßnahmen wie verstärkte Schleierfahndungen oder eine intensivere grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei erreichen lasse.

"Wenn man aus allen möglichen Gründen solche Kontrollen wiedereinführen darf, was bleibt dann noch vom grenzfreien Raum?", fragt der Münchner Experte für EU-Recht Constantin Hruschka. Sein niederländischer Kollege Rijpma gibt der Klage eines an der deutschen Grenze Aufgegriffenen, der sich auf die fehlende Rechtsgrundlage der Kontrollen bezöge, gute Chancen.

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Quelle:
SZ vom 23.06.2018
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