Russland:Raus aus der Heimat

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Öffnet längst nicht alle Schlagbäume: Ein Mann zeigt seinen russischen Pass an der Grenze nach Estland vor. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Russische Dissidenten versuchen zu Tausenden, in der EU Schutz zu finden. Die Regierung in Deutschland kann sich aber nicht auf eine Visaregelung einigen.

Von Markus Balser und Constanze von Bullion, Berlin

Sie erhalten nächtlich Anrufe von Geheimdienstmitarbeitern, werden bedroht, eingeschüchtert, oft auch verhaftet. Russische Journalistinnen und Journalisten, die es wagen, den Krieg gegen die Ukraine öffentlich einen Krieg zu nennen, werden nicht nur mit hohen Geldstrafen belegt. Sie erlebten eine "regelrechte Hetzjagd", berichtete kürzlich der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr. Nach Repräsentanten nationaler Medien würden nun die Lokalmedien systematisch schikaniert. Die Bundesregierung will helfen, nach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) machte am Donnerstag auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth Druck.

"Das Putin-Regime verwandelt Russland derzeit mit drakonischen Maßnahmen in eine lupenreine Diktatur, auch um mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit über die Gräueltaten und Grausamkeiten der russischen Invasion in der Ukraine ans Licht kommt", sagte die Grünen-Politikerin der Süddeutschen Zeitung. "Gerade jetzt gilt es, dass wir die Stimmen aus Medien und Kultur unterstützen, die die letzten Freiräume in Russland verteidigt haben, die versucht haben, wahrheitsgetreu zu berichten oder ihre Stimmen gegen diesen Angriffskrieg erhoben haben."

Zuvor hatte Innenministerin Faeser am Donnerstag angekündigt, politisch Verfolgte aus Russland in Deutschland besser schützen zu wollen. "Menschen, die Putins verbrecherischen Krieg ablehnen und zum Schutz vor Repressionen aus Russland fliehen, sollen in Deutschland sicher sein", erklärte sie via Twitter. "Wir müssen Wege finden, damit konkret bedrohte Menschen aus Russland in der EU Asyl beantragen und auch arbeiten können." Während Flüchtlinge aus der Ukraine im Zuge einer Krisenrichtlinie der EU für Kriegsflüchtlinge automatisch bis zu drei Jahre in Deutschland bleiben und auch sofort arbeiten dürfen, gelten für Geflohene aus Russland strengere Vorschriften.

Russen brauchen für die Einreise nach Deutschland ein Schengen-Visum

Russinnen und Russen, die nach Deutschland wollen, müssen vor der Einreise nach Deutschland ein sogenanntes Schengen-Visum beantragen. Es erlaubt ihnen die Einreise, aber nur 90 Tage Aufenthalt - und keine Aufnahme von Arbeit in der Bundesrepublik. Auch wer wegen politischer Verfolgung Asyl erhält, darf wie alle anderen Asylbewerber lange kein eigenes Geld verdienen. Beide Optionen sind für russische Journalisten, Firmenmitarbeiter oder Kulturschaffende problematisch. Denn erstens ist ein Ende des Krieges nicht absehbar, und zweitens wollen und müssen die allermeisten arbeiten.

Seit russische Truppen die Ukraine angegriffen haben und eine Verhaftungswelle gegen regierungskritische Bürger in Russland läuft, sieht sich die deutsche Botschaft in Moskau mit einer Flut von Ausreisewünschen konfrontiert. Allein die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter westlicher Firmen, die lieber heute als morgen das Land verlassen würden und um Visa für Deutschland bitten, soll inzwischen im mittleren vierstelligen Bereich liegen. Dazu kommen kritische Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle, Deserteure und andere Putin-Kritiker, die mit langjährigen Freiheitsstrafen rechnen müssen.

In der Ampelkoalition gehen führende Politiker davon aus, dass auch immer mehr Soldaten, Polizisten oder auch Regierungsmitarbeiter fliehen könnten. "Wir müssen uns darauf einstellen, dass Angehörige des russischen Sicherheitsapparats und der russischen Streitkräfte ihr Land verlassen wollen", sagt Konstantin Kuhle, stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender, der SZ. "Immer mehr russische Soldaten werden mit dem Fortgang des Krieges die Sinnlosigkeit des Angriffskriegs erkennen." Nötig sei deshalb ein Vorstoß, um ihnen unkompliziert Schutz in der Europäischen Union zu gewähren, so Kuhle. "Das würde den Mut der Deserteure belohnen und einen Beitrag leisten, die Schlagkraft der russischen Armee weiter zu schwächen", sagt Johannes Vogel, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion.

Man sei sich im Grundsatz in der Bundesregierung längst einig

In der Bundesregierung wird schon seit Wochen versichert, man wolle und werde politisch Verfolgten und Bedrohten in Russland zügig helfen. Die Sache aber zieht sich hin. Eigentlich sollte bedrohten russischen Staatsbürgern nach dem Willen der Bundesregierung statt eines sogenannten C-Visums ein sogenanntes D-Visum ausgestellt werden, das einen längeren Aufenthalt ermöglicht. Man sei sich im Grundsatz in der Bundesregierung längst einig, helfen zu wollen, hieß es am Donnerstag.

Auswärtiges Amt und Bundesinnministerium haben sich allerdings noch auf keine gemeinsame Linie einigen können. Zum einen gibt es Sicherheitsbedenken, offenbar auch aus dem Bundesinnenministerium. Denn unter politisch Verfolgte und Deserteure aus Russland könnten sich Extremisten mischen - oder Putin-Anhänger auf diesem Weg gezielt eingeschleust werden. Klare Vorgaben für die deutsche Botschaft in Moskau fehlen noch. Zudem droht deren Mitarbeitern demnächst die Ausweisung. Dann käme die ohnehin stockende Visa-Ausstellung ganz zum Erliegen oder müsste in Nachbarstaaten wie Georgien verlegt werden.

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