Obwohl das Spiel weder nach Würfeln noch einem Einsatz verlangt, ist Schach in Afghanistan zum wiederholten Male von den Taliban verboten worden. Es gebe religiöse Bedenken in Bezug auf den Denksport, heißt es aus der afghanischen Sportdirektion. Weil man auf den Spielausgang wetten kann, sieht die Tugendpolizei im Brettspiel ein Glücksspiel – verboten nach dem Koran. Dabei waren es doch die islamischen Eroberer, die das aus Indien stammende Spiel von Persien einst über die arabische Welt bis nach Europa brachten.
Das 1500 Jahre alte Brettspiel setzt Kräfte frei, die so schnell nicht wieder eingefangen werden können. Das weiß man nicht erst, seit es Queen's Gambit auf Netflix zu sehen gibt – eine Serie, die zeigt, welche Obsession es braucht, um es in diesem Denksport zur Größe zu schaffen. Auch dürften die Taliban von der Partie zwischen „Deep Blue“ und Garri Kasparow 1997 nichts gehalten haben, war es doch ein seelen- und gottloser Computer, der die Grenze zur Allmächtigkeit mit seinem Sieg über den Weltmeister aufzubrechen schien.
Oder liegt das Problem der Fundamentalislamisten in dieser einen Figur, die sich ungehindert in alle Himmelsrichtungen über das Feld bewegen kann? Sie ist ausgerechnet eine Frau, die Dame. Im Englischen gar Queen, also Königin, genannt. Auf dem Schachbrett hat sie die meisten Freiheiten und damit wohl den größten strategischen Wert, weil sie anders als andere Spielfiguren sowohl vorwärts und rückwärts und diagonal über das Spielfeld ziehen kann.
In arabischen Ländern ist die Dame ein „Wazir“
Das war nicht immer so. Schach musste etwa 500 Jahre ohne diese Figur auskommen, sie waren zunächst männlich oder geschlechtslos. In vielen arabischen Ländern wird der persischen Tradition folgend immer noch mit einem „Wazir“, dem königlichen Berater, gespielt. Doch spätestens dann, wenn man an den Wettbewerben des Weltschachverbands teilnehmen will, hat man zu akzeptieren, dass das Feld neben dem König für eine Frau reserviert ist. Das war bis vor Kurzem auch in Afghanistan der Fall.
Der Einzug der Dame geht schätzungsweise auf das Jahr 1000 zurück. Da erwähnte ein deutschsprachiger Mönch in den Alpen sie in seinen „Versen über das Schachspiel“ so beiläufig, als sei es die größte Selbstverständlichkeit, dass das Strategiespiel – wohl einst inspiriert vom Krieg der Männer – nicht ohne eine Frau auskommen kann.
Sie ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit eine europäische Erfindung. Das wird umso deutlicher, wenn man sich die soziale Dimension der Schachfiguren ansieht. Dort gibt es die Bauern und Bischöfe sowie Ritter und Türme. Sie spiegeln die feudalen und klerikalen Strukturen des Mittelalters, aber auch realen Herrschaften jener Zeit wider, die nicht selten von einflussreichen Frauen besetzt waren, argumentiert die Schriftstellerin Marilyn Yalom in ihrem Buch „Birth of the Chess Queen.“
Die Frau war damals nicht nur die zweite Hälfte des Königs, sondern auch seine Vertraute und seine Stellvertreterin. In manchen Fällen konnte sie von ihrem Vater Königreiche erben und selbst herrschen, insbesondere, wenn es in der Familie keine männlichen Nachkommen gab. Vielleicht sei es gar kein Zufall, dass die Dame ihre stärksten Spielzüge gerade um die Zeit erhielt, als eine der mächtigsten Frauen in Spanien, Isabella von Kastilien, an der Macht war, schreibt Yalom.
Die Präsenz einer brillanten Frau auf dem Schachbrett kann zudem die Frage provozieren, wie es sein kann, dass Frauen in der Realität vieler Länder, Afghanistan vorneweg, wenig zu sagen haben. Liegt darin nicht das wahre revolutionäre Potenzial des Schachs?
