Sarrazin-Buch "Der neue Tugendterror":Kühler Kopf, kaltes Herz

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Thilo Sarrazins neues Buch "Der neue Tugendterror". Darin rechtfertigt er seine früheren Thesen und beklagt mangelnde Meinungsfreiheit. (Foto: dpa)

Gejagt, verteufelt und vergrault: In seinem neuen Buch "Der neue Tugendterror" beklagt sich ausgerechnet Thilo Sarrazin über mangelnde Meinungsfreiheit - und sieht sich als Mobbing-Opfer.

Von Johann Osel

Es ist schon sehr verwunderlich, dass gerade einer wie Thilo Sarrazin die Grenzen der Meinungsfreiheit beklagt. Hatte der frühere SPD-Politiker doch mit seinen Büchern "Deutschland schafft sich ab" und "Europa braucht den Euro nicht" gigantische Auflagen erzielt, war für Fernsehtalkshows abonniert, beherrschte die Schlagzeilen. Doch einen Maulkorb macht er nun im Buch "Der neue Tugendterror" aus.

Der "gesellschaftlich akzeptierte Kreis des Sagbaren und Denkbaren" werde durch die linke Medienmacht begrenzt, schreibt Sarrazin. Zunehmend werde die freie Betrachtung der Gesellschaft "in vorgefasste Raster gepresst" - bei Zuwiderhandlung drohten Sanktionen. Demnach ist es pure Kühnheit und grenzt an ein Wunder, dass das Buch am Montag erscheinen konnte, Startauflage 100 000 Exemplare übrigens.

Es ist zunächst mal ein Ich-Buch geworden, es geht um die Reaktionen auf seinen Erstling. Darin hat sich der gelernte Volkswirt als Genetiker und Bildungsexperte hervorgetan. Die Kernthesen damals, die er erneut aufführt, lassen sich zusammenfassen im Lamento: Das Land schrumpft und verdummt. Oder etwas hochmögender: Die Kinderzahl "korreliert negativ" mit dem Status und der Intelligenz der Eltern, im Gegenzug senkt die "spezifische Einwanderung" aus der Türkei, aus Afrika und Nahost "das durchschnittliche Niveau der Bildungsleistung". Für das neue Buch hat sich Sarrazin nun zwei neue Professionen ausgesucht: Kommunikationswissenschaftler und Pressedokumentar.

So sammelt er penibel Dutzende Artikel, diagnostiziert ein breit angelegtes Mobbing, "Falschaussagen sprossen munter weiter wie Löwenzahn auf der Frühlingswiese". Danach stellt er mittels einiger Grundlagenwerke der Psychologie und Soziologie fest: So wie die Haut Hitze und Kälte spüre und so ein Bild vom Wetter liefere, "so reagieren Menschen mit feinsten Sensoren auf den Stand, die Richtung und die Schwankungen der öffentlichen Meinung". Daher hätten die Bürger die Scheu, sich zu Meinungen zu bekennen, die sie nicht als mehrheitstauglich wahrnehmen.

"Opfer eines medialen Komplotts"

Das Opfer dieses Prozesses: er selbst. Gejagt von Tugendterroristen in den Redaktionsstuben, verteufelt in der Politik, vergrault aus dem Vorstand der Bundesbank. "Soziale Isolierung, ausgesprochen durch den Fluch des Medizinmanns, war schon im afrikanischen Busch ein probates Mittel, um Menschen erst in den sozialen und dann in den physischen Tod zu treiben", schreibt ein quicklebendiger, aber offenbar gekränkter Sarrazin. Es sei auch "erst 380 Jahre her, dass Galileo Galilei unter dem Druck der Inquisition widerrief, dass sich die Erde um die Sonne dreht".

Das ist nicht die einzige historische Anleihe, die "Blutspur" der Französischen Revolution, Hexenverbrennungen oder das antike Scherbengericht zur Verbannung prägen das Buch. Zumindest indirekt stets verknüpft mit dem Wirken eines gewissen Thilo Sarrazin. Das Komplott gegen ihn erklärt er einerseits mit der "politischen Korrektheit", einem "hermetischen Code des Guten, Wahren und Korrekten".

Andererseits sieht er ein "Gleichheitspostulat", das alle Unterschiede zwischen Menschen, Religionen und sozialen Gruppen verneinen wolle. Eine Mehrheit der Journalisten ordneten ihr Denken links von ihrem Publikum ein. "Die Trümmer der historisch diskreditierten Lehren treiben nach wie vor als moralisches Strandgut auf den Meeren der Geistesgeschichte." Nicht mal auf das miese Ergebnis türkischstämmiger Schüler in der Pisa-Studie dürfe man heutzutage hinweisen, ohne als Rassist zu gelten.

Er habe in seinem ersten Buch "den Irrtum, das Medienbild sei die Wirklichkeit", nachgewiesen. Es sei Journalisten aber unmöglich gewesen, ihn als "Traumtänzer" abzutun - schließlich habe er zu den "kundigen Mechanikern" der Politik gehört und, wohlgemerkt, "sichtbare Erfolge" gehabt. "Also musste ich ein Verräter sein."

Nicht nur inhaltlich gebe es Gleichheitsapostel in den Medien, auch sprachlich. "Zigeuner" und mittlerweile sogar "Roma" seien verpönt. "Der Tag ist absehbar, an dem auch der Begriff Armutszuwanderer als rassistisch auf den Index kommt", wähnt Sarrazin. Für ihn das falsche Prinzip: "Wenn der Vogel Strauß den Kopf in den Sand steckt, so sieht er zwar den angreifenden Löwen nicht mehr, aber dieser verschwindet deshalb nicht." Dass ein angreifendes Raubtier das Migrantenbeispiel illustriert, mag Zufall sein.

Zuletzt definiert Sarrazin 14 angebliche Tugendterror-Thesen - und glaubt sie zu widerlegen. "Gleichheit ist gut", unterstellt er allen Journalisten als Credo. Und antwortet: Überall schlage der Fleißige den Faulen, der Kluge den Dummen - so entstehe Wissen und Wohlstand. "Reiche sollten sich schuldig fühlen", macht er als weitere These aus. "Ein Ausfluss von Neid", ohnehin sei aber die Mittelschicht seit Jahrzehnten stabil. Analysiert werden die Geistesfähigkeiten der Rassen und allen Ernstes die Frage, warum der Islam wirtschaftlichen Erfolg ausbremst.

Lebenslängliche Korsette statt Entwicklung und Gleichheitspostulat

Haben sich doch das hinduistische Indien und das islamische Pakistan abweichend entwickelt, obwohl beide einst Kronkolonie waren. Deshalb brauche Einwanderungspolitik Steuerung. "Das Leben unter einer Diktatur allein kann ebenso wenig wie Armut ein Asylgrund sein." Die Aufnahme sollte sich "primär nach den Nützlichkeitserwägungen" richten. Unterschiede zwischen Frau und Mann sowie heterosexuellen und schwulen Paaren ergänzen die Thesen.

Von Stammtischplumpheit ist Sarrazin jedoch entfernt, vieles ist hübsch in Fachsprache verpackt und mit allerlei Zahlenwerk garniert. Seine Argumentation hat er akkurat durchkomponiert, das Buch ist mit kühlem Kopf geschrieben. Aber auch mit kaltem Herzen. Denn das, was er als Gleichheitspostulat sieht, ist der Gedanke, dass sich in einer Gesellschaft Stärkere für die Schwächeren interessieren; dass Aufstieg möglich sein kann, dass Bildung bildet.

Sarrazin dagegen steckt Menschen in Korsette, diese sollen sie gefälligst lebenslang tragen. Dahinter steckt das Weltbild, mit dem er so gerne spielt: aus der Zeit der Hexenverbrennung. Wer das kritisiert, betreibt laut dem Buch Tugendterror. Dabei preist sich der Autor im Nachwort selbst: als "Diskussionsveteran".

Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, DVA München 2014, 400 S., 22,99 Euro.

© SZ vom 25.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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