Süddeutsche Zeitung

Sarkozy kritisiert Schengen-Abkommen:Grenzenlos unzufrieden

Die inneren Grenzen abzuschaffen, war einer der größten Erfolge der europäischen Einigung. Deshalb könnte man das Unbehagen des französischen Präsidenten Sarkozy über den Schengen-Vertrag als Wahlkampf-Getöse abtun. Doch das wäre leichtsinnig.

Martin Winter

In Frankreich herrscht Wahlkampf, und daher ist die Versuchung groß, die Ausfälle des französischen Präsidenten gegen den Schengen-Vertrag über den kontrollfreien Grenzverkehr in der EU als populistische Stimmenhascherei abzutun. Das sind sie gewiss auch, aber eben nicht nur. Es spiegelt sich darin auch ein quer durch Europa wachsendes Missbehagen gegenüber Schengen. Dies zu übersehen, wäre leichtsinnig.

Die Schlagbäume abzubauen, war einer der größten Erfolge der europäischen Einigung, und niemand wünscht sich ernsthaft in die alten Zeiten zurück. Aber es gibt Zweifel, ob das Schengen-System den Herausforderungen noch gewachsen ist, vor denen es heute steht.

Schengen wurde 1985 von einer kleinen Gruppe von Ländern geschaffen, die sich gut kannten und gegenseitig vertrauten. Ihre Idee war einfach und revolutionär: Nach innen soll Europa keine Grenzen mehr haben, dafür aber eine gemeinsame Grenze nach außen. Jedes Land, das ein Stück dieser Außengrenze besitzt, muss es zum Nutzen aller sichern. Und Flüchtlinge sind dort aufzunehmen, wo sie zuerst den Boden der EU betreten.

Die Schengen-Regeln funktionieren nicht mehr

Diese Regeln funktionieren trotz mehrfacher Ergänzungen und Überarbeitungen nicht mehr. Für ein System, das auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und des Vertrauens basiert, ist die Zahl der Schengen-Länder nach der Osterweiterung zu groß geworden, und diese Staaten schleppen zu viele innere Sicherheitsprobleme mit sich. Dass Rumänien und Bulgarien noch nicht im Schengen-Raum sind, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllen, ist der Furcht vieler anderer EU-Länder geschuldet, dass die Polizei und die Gerichte dieser Länder gegenüber der organisierten Kriminalität zu nachsichtig sein könnten.

Ein anderes Problem: Der Druck durch illegale Zuwanderung sowie durch organisierte Kriminalität aus dem Osten und aus dem Süden hat ein Ausmaß angenommen, das die einzelnen Länder nicht mehr bewältigen können. Griechenland versagt bei der Sicherung seiner Grenze zur Türkei. Italien lässt illegale Zuwanderer vertragswidrig in andere EU-Staaten weiterziehen. Und die europäische Grenzschutzagentur Frontex hilft mal hier und mal dort aus, kommt aber meist zu spät und kann zu wenig bewegen.

Machen sich die übers Meer Geflüchteten von Italien nach Frankreich auf, dann schließt Paris schon mal die Grenzen. Und auch in Berlin, Den Haag oder Stockholm wächst die Furcht, dass das illegale Weiterschleusen der Zuwanderer in den Speckgürtel Europas dort zu politischen Problemen führen könnte. Vor kurzem haben sechs Länder, darunter auch Deutschland, dringlich und mit einem leicht drohenden Unterton angemahnt, dass endlich etwas Greifbares gegen diese interne Migration unternommen werden müsse. Die Geduld geht zu Ende.

Europa braucht einen eigenen Grenzschutz und mehr Solidarität

Es führt darum kein Weg daran vorbei, Schengen von Grund auf neu zu denken. Wer die Idee des nach innen grenzfreien Europas bewahren will, muss sie in eine neue Form gießen. Um an jeder Stelle ihrer gemeinsamen Außengrenzen die gleiche Sicherheit zu garantieren, müssten die Schengen-Staaten sie auch gemeinsam kontrollieren. Europa braucht einen eigenen Grenzschutz. Und es braucht mehr Solidarität. Die Last der Zuwanderung sollte nicht da liegenbleiben, wo sie zuerst hinfällt, sondern angemessen auf alle verteilt werden.

Das aber ist - und da denkt Nicolas Sarkozy in die richtige Richtung - nur möglich, wenn der Schengen-Raum ähnlich wie jetzt gerade die Euro-Zone eine politische Führung bekommt. Nur dann könnten die Länder ihre nationale Zuständigkeit für die innere Sicherheit, für Asyl und für Flüchtlinge so ausfüllen, dass gemeinsame Sicherheit entsteht. Denn eines ist weiterhin richtig: Ein nach innen grenzenloses Europa funktioniert nur, wenn es seine Außengrenzen wirksam kontrolliert.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2012/fran
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