Es ist eine bemerkenswerte Grafik, die EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter verbreitet, noch während die Staats- und Regierungschefs am Dienstagmittag in Brüssel beraten. Sie zeigt eine Landkarte Europas mit unzähligen kleinen gelben Flugzeugen. Sie fliegen in alle Himmelsrichtungen. Nur an einer Stelle herrscht Leere - über Belarus. Michel kommentiert das mit dem Spruch: "Europe in action." Der Belgier ist erkennbar stolz, wie zügig die EU gehandelt hat nach jenem Vorfall, den er als "schockierend" und "skandalös" bezeichnet.
Das Entsetzen über die von Belarus erzwungene Landung eines Ryanair-Flugzeugs in Minsk ist bei Bundeskanzlerin Angela Merkel noch am Dienstagabend bei ihrem Auftritt vor den Medien spürbar. "Besorgniserregend und erschütternd" nennt sie da das in der Nacht zuvor aufgetauchte Video des offenbar von Misshandlungen gezeichneten Bloggers. Dass eine Untersuchung durch die Internationale Zivilluftfahrtorganisation angeregt wird, war erwartet worden, aber das Ausmaß an Sanktionen überrascht ebenso wie die schnelle Einigung. Auch der Ungar Viktor Orbán, der oft Sympathien für Autokraten zeigt und sonst gern ein Veto einlegt, trägt die Strafen mit. "Es ist die Antwort auf einen beispiellosen Vorgang", sagt Merkel.
Darin werden "alle Fluggesellschaften mit Sitz in der EU" aufgefordert, Flüge über Belarus zu vermeiden. Die Mitgliedstaaten sollen Maßnahmen treffen, um "Überflüge des EU-Luftraums durch belarussische Fluggesellschaften zu verbieten und den Zugang von Flügen belarussischer Fluggesellschaften zu EU-Flughäfen zu verhindern". Das Land soll vom europäischen Flugverkehr abgeschnitten werden. Michels Tweet zeigt, wie schnell dies Realität wird.
Schon am Dienstagvormittag gibt die staatliche Belavia bekannt, ihre Flüge von Minsk nach London und Paris bis Ende Oktober auszusetzen: Man bedauere die aktuelle Situation, "die wir nicht ändern können". Nach Air Baltic und Wizz Air kündigten auch Finnair, die polnische Lot sowie Air France an, den belarussischen Luftraum zu meiden. Die Lufthansa ändert ihre Routen für die Flüge nach Moskau, von Mittwoch an sind Direktverbindungen nach Minsk gestrichen. Nach Angaben der Luftsicherheitsbehörde Eurocontrol überqueren sonst täglich mehr als 300 Flüge Belarus; Experten schätzen, dass Minsk etwa 30 Millionen Euro an jährlichen Transitgebühren verlieren könnte.
Vor Journalisten spricht EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen von "einem Angriff auf die europäische Souveränität", auf Demokratie und Meinungsfreiheit. Unverzüglich müsse Belarus den Regimekritiker Roman Protassewitsch und dessen Freundin Sofia Sapega freilassen, verlangen die Staats- und Regierungschefs. "Möglichst bald" sollen weitere Personen und Organisationen mit Sanktionen belegt werden. Von der Leyen gibt die Richtung vor: Man wolle jene bestrafen, die an der "Entführung" beteiligt gewesen waren, aber auch Firmen, die dieses Regime finanzieren. Bisher stehen auf der EU-Liste 88 Personen, unter ihnen Machthaber Alexander Lukaschenko sowie sieben Unternehmen. An einem vierten Sanktionspaket wird seit Wochen gearbeitet. Die Betroffenen dürfen nicht mehr in die EU reisen; zudem werden eventuell in der EU vorhandene Konten gesperrt.
Darüber hinaus soll es "weitere gezielte wirtschaftliche Sanktionen" geben. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und die EU-Kommission sollen "zu diesem Zweck unverzüglich Vorschläge unterbreiten". Als denkbar gilt, die belarussische Chemie- oder Energieindustrie zu treffen. Merkel will sich nicht an Spekulationen beteiligen: Man habe aber ein politisches Signal senden wollen, "dass wir es nicht bei Listungen belassen wollen, sondern darüber hinaus gehen".
Fraglich bleibt, ob die Maßnahmen Lukaschenko beeindrucken werden. Er kann weiter auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin zählen, beide wollen sich noch in dieser Woche treffen. Weiter spekuliert wird über Russlands Rolle bei der Aktion. Im Deutschlandfunk sprach der außenpolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Nils Schmid, von einer "staatlich verordneten Flugzeugentführung", die nur mit Russland möglich gewesen sei. Nahezu alle Osteuropa-Fachleute gehen davon aus, dass Putin die Aktion zumindest abgenickt haben muss.
Ob einer der Staats- und Regierungschefs Putin direkte Vorwürfe machte, ist unklar. Bei der "strategischen Debatte" über das Verhältnis zu Russland waren im Saal keine Tablets oder Mobiltelefone erlaubt - um offen sprechen zu können und aus Angst vor Lauschangriffen. Merkel sagt nur, dass keine "gesicherten Erkenntnisse" vorgelegen hätten: "Wir haben die Frage gestreift, ob Russland etwas damit zu tun hat." Sie werde darüber bei der nächsten Unterhaltung mit Putin sprechen.
Verurteilt werden die "rechtswidrigen, provokativen und disruptiven russischen Aktivitäten gegenüber der EU, ihren Mitgliedstaaten und darüber hinaus". Was damit gemeint ist, zählte von der Leyen am Dienstagmorgen auf: Sabotage, hybride Bedrohungen, Cyberangriffe, Desinformationskampagnen. "Russlands Verhalten ändert sich nicht, es wird immer schlimmer", so ihr Fazit. Der Außenbeauftragte Borrell soll bis Ende Juni in einem Bericht "Handlungsoptionen" aufzeigen, womit Strafmaßnahmen gemeint sind. Die Kanzlerin sagt, dass dann "handfeste Beschlüsse" gefasst werden könnten - wenn sich alle einig sind. Als sicher darf eines gelten: Auch bei dem Treffen werden elektronische Geräte tabu sein.