Kein Wladimir Putin in Istanbul am Donnerstag – aus europäischer Sicht bedeutet das zweierlei. Erstens: Der russische Machthaber beweist damit vor den Augen der Welt, dass er an ernsthaften Gesprächen über ein Ende des Kriegs in der Ukraine nicht interessiert ist. Zweitens: Jetzt muss – wie in den vergangenen Tagen vor allem von den Regierungen in Berlin und Paris mehrmals angedroht – der Druck auf Russland durch noch härtere Wirtschaftssanktionen erhöht werden. Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben bereits öffentlich zwei Bereiche identifiziert, die es treffen soll: die immer noch lukrativen russischen Energieexporte und die Finanzbranche.
Das Problem für die Europäer ist jedoch, dass sie ihren Spielraum bei neuen Sanktionen weitgehend ausgeschöpft haben. Die EU muss wirtschaftliche Strafmaßnahmen im Konsens beschließen. Je fester die Sanktionsschraube angezogen wird, desto schwieriger wird es aber, unter den 27 Regierungen Einstimmigkeit zu erreichen, weil bestimmte Länder nicht mehr mitziehen – sei es aus wirtschaftlichen Gründen oder, Beispiel Ungarn, aus politischen.
In der Praxis führt das dazu, dass die Zahl der EU-Sanktionspakete zwar zunimmt, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Anfang 2022 wurden bereits 17 beschlossen. Doch inhaltlich werden diese Pakete von Mal zu Mal dünner. Auf weitere Sanktionen gegen bestimmte russische Firmen oder einige Dutzend Öltanker, die Putins Krieg am Laufen halten, können sich die 27 EU-Regierungen gerade noch einigen. Aber um zum Beispiel den Import von russischem Öl und Gas in die EU komplett zu verbieten, der Moskau nach Brüsseler Angaben pro Monat immer noch satte 1,8 Milliarden Euro einbringt, fehlt in Europa die erforderliche Einstimmigkeit.
Bisher hat Trump seinen Drohungen keine Taten folgen lassen
Die Hoffnung in Berlin, Paris und Brüssel ist, dass Putins Fernbleiben von den Istanbuler Gesprächen an einem anderen Ort Wirkung zeigt: im Weißen Haus. US-Präsident Donald Trump hat in den vergangenen Monaten immer wieder laut darüber nachgedacht, Russland mit harschen neuen Sanktionen zu bestrafen, sollte es sich Friedensverhandlungen verweigern. Doch bisher hat Trump keine Taten folgen lassen. Die Europäer setzen daher nun darauf, dass Putins Renitenz Trump davon überzeugt, dass der Russe das größte Hindernis auf dem Weg zum Frieden ist. Und dass Amerikas Präsident sich nicht länger hinhalten lassen darf, sondern gewissermaßen auf den Tisch hauen muss. Das, so die Erwartung, würde dann auch den Widerstand der Trump-Bewunderer in der EU gegen verschärfte Sanktionen brechen, allen voran von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán.
Zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gibt es Diplomaten zufolge bereits Gespräche über ein gemeinsames Vorgehen gegen Russland. Im Mittelpunkt steht dabei ein Gesetzentwurf, den der republikanische US-Senator Lindsey Graham vorgelegt hat, ein enger Vertrauter Trumps und entschlossener Unterstützer der Ukraine. Dieses Gesetz sieht äußerst strikte Sanktionen gegen die russische Führung – von Präsident Putin persönlich an abwärts – sowie gegen russische Firmen und den Bankensektor des Landes vor. De facto würden die russische Elite sowie große Teile der russischen Industrie und Finanzbranche dadurch von der Weltwirtschaft abgekoppelt werden, Geschäftskontakte wären amerikanischen und ausländischen Unternehmen und Bürgern verboten. Bei Verstößen können Vermögenswerte eingefroren und Einreiseverbote verhängt werden.
Zudem würden durch das Graham-Gesetz Strafzölle in Höhe von 500 Prozent gegen alle Länder verhängt, die russisches Öl oder Gas kaufen – ein möglicherweise machtvolles Druckmittel. Für Moskau ist der Export von Rohstoffen nach China und Indien derzeit der wichtigste Weg, um trotz der westlichen Sanktionen Geld zu verdienen. Die EU-Länder beklagen das zwar, aber sogenannte sekundäre Sanktionen können sie – anders als die USA – aus rechtlichen Gründen nicht erlassen. Allerdings könnten auch europäische Staaten wie Ungarn, die Slowakei, Österreich, Belgien oder Frankreich, die noch fossile Energierohstoffe aus Russland importieren, durch das Graham-Gesetz Probleme bekommen.
Ohne Trumps Zustimmung funktioniert das Gesetz aber nicht. Die Republikaner im Kongress könnten es zwar ohne den Segen des Präsidenten beschließen, werden das aber wohl kaum tun. Zudem muss der Präsident offiziell feststellen, dass Russland sich Friedensverhandlungen widersetzt oder ein Friedensabkommen bricht, bevor die Sanktionen wirksam werden können. Das letzte Wort hat damit der US-Präsident. Und ob der sich zum Beispiel gleich wieder durch neue Strafzölle mit China anlegen will, nachdem beide Seiten ihre Zolleskalation gerade entschärft haben, ist offen.
Ebenso offen ist eine Grundsatzfrage, die aus europäischer Sicht entscheidend ist: Will Trump einen schnellen Deal mit Putin, um den Krieg in der Ukraine zu beenden? Oder will er einen gerechten, dauerhaften Frieden erreichen? Je nach Ziel dürfte die Bereitschaft des US-Präsidenten, den russischen Gewaltherrscher durch harte Sanktionen ernsthaft zu Zugeständnissen zu zwingen, unterschiedlich groß sein.