Süddeutsche Zeitung

Rückführungen:Eilsache Sami A.

  • Der Tunesier Sami A. wurde trotz eines Verbots durch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen abgeschoben.
  • Bei dem Gericht zeigt man sich darüber empört und spricht von einem "grob rechtswidrigen" Vorgehen.
  • Das Land NRW will das Abschiebeverbot vor dem Oberverwaltungsgericht anfechten - und diesmal rechtmäßig verhindern, dass Sami A. je wieder deutschen Boden betreten darf.

Von Christian Wernicke, Düsseldorf

Die Richter in Gelsenkirchen fühlen sich hinters Licht geführt: übergangen von der Politik, ausgetrickst von der bundesdeutschen Asylbürokratie wie vom Ausländeramt Bochum. "Hier ist der Rechtsstaat vorgeführt worden", ätzt Wolfgang Thewes, der Sprecher des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen. Zum Beweis hat dessen Chef Bernhard Fessler, der Gerichtspräsident, auf der Website seines Hauses minutiös nacherzählt, wie sich seine Justiz im "Fall Sami A." vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) sowie von den zuständigen Behörden im Land Nordrhein-Westfalen tagelang falsch informiert fühlte.

Die Richter schlugen zurück, mit einem erneuten Rechtsspruch: Die Abschiebung des 42-jährigen Tunesiers in den frühen Morgenstunden des Freitags sei "grob rechtswidrig", der mutmaßliche Ex-Leibwächter des früheren Terrorführers Osama bin Laden müsse auf Staatskosten zurück nach Deutschland geholt werden.

Der tunesische Rechtsanwalt des Abgeschobenen, Seif Eddine Makhlouf, spricht von einem "unglaublichen Skandal". "Der deutsche Innenminister hätte meinen Mandanten nie nach Tunesien abschieben dürfen", sagte er der Bild-Zeitung.

Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, sieht das anders. "Es gibt aus meiner Sicht keinerlei Zweifel an der Rechtmäßigkeit der getroffenen polizeilichen Maßnahmen und Entscheidungen", sagte Wendt der Passauer Neuen Presse. "Es kann nicht sein, dass sich sämtliche Parlamente und Sicherheitsbehörden vor einem Verwaltungsgericht aus NRW wegducken."

Die Abschiebeaffäre um den als "Gefährder" eingestuften Sami A. stellt sich rückblickend als ein Desaster dar. Es ist ein brutaler Zusammenstoß von Politik und Justiz. Vor diesem Crash rasen zwei Züge - gleichsam ein juristischer Güterzug und ein polit-bürokratischer ICE - tagelang auf zwei Gleisen nebeneinander her. Am Freitagmorgen dann, auf der Fahrt in die Landeshauptstadt Düsseldorf, geraten beide aufs selbe Gleis und verkeilen sich. Alles entgleist.

Anfang voriger Woche, am 9. Juli, nimmt zunächst Justitia Fahrt auf. Die Kammer 7a des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen übernimmt die Akte Sami A. - und setzt dem Bamf am Mittwoch (11. Juli) eine Frist bis Donnerstag, sich im Rechtsstreit um die Abschiebung des seit 1997 in Deutschland lebenden Tunesiers zu äußern. Per Telefonat erkundigt sich das Gericht zudem in Berlin, ob stimme, was man in Papieren der Bochumer Ausländerbehörde lese: dass für eben diesen Donnerstag bereits ein Flug zur Abschiebung des mutmaßlichen Islamisten gebucht sei. Das Gericht verlangt das Versprechen des Bamf, per "Stillhalte-Zusage" bis zu einem Gerichtsentscheid keine vollendeten Tatsachen zu schaffen.

Tags drauf liefert das Bamf - und rückt zugleich die nordrhein-westfälische Ministerialbürokratie ins Zentrum: Ein Referat im Ministerium von Flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) habe versichert, dass die "Flugbuchung für den 12. 07. 2018 storniert wurde". Das Gericht verzichtet deshalb auf eine Eilentscheidung ("Hängebeschluss"), formuliert am Nachmittag auf 22 Seiten ein Abschiebeverbot samt Begründung (drohende Folter im Herkunftsland Tunesien) - und hinterlegt die Papiere um 19.20 Uhr in der nicht mehr besetzten Schreibstelle des Gerichts. Feierabend.

Um 6.53 Uhr hob das Flugzeug ab, um 8.10 Uhr informierte das Gericht das Bundesamt

Zu diesem Zeitpunkt jedoch haben Politik und Ausländerbehörden in Bund und Land längst die Abschiebung von Sami A. auf die Schiene gebracht. Die Bundespolizei hat den weißen Charterjet vom Typ Challenger 604 für Freitagmorgen gebucht, und die NRW-Landespolizei weiß, dass sie von drei Uhr an einen VW-Transporter aus dem Abschiebegefängnis Büren in Ostwestfalen eskortieren muss. Abfahrt noch vor Sonnenaufgang, mit Sami A. an Bord, der seit Juni in Büren einsitzt. Nach gut zwei Stunden Fahrt kommt der Konvoi am Flughafen Düsseldorf an, die Landespolizisten übergeben den Tunesier an wartende Bundespolizisten. Bild fotografiert, wie der Jet um 6.53 Uhr abhebt.

In diesem Moment liegt das richterliche Abschiebeverbot noch immer in der unbesetzten Schreibstube des Verwaltungsgerichts. Beamte von NRW-Flüchtlingsminister Joachim Stamp werden deshalb später argumentieren, der Gelsenkirchener Entscheid sei zu diesem Zeitpunkt in Düsseldorf unbekannt und also "nicht rechtswirksam" gewesen - erst per Verkündung gelte das Wort der Richter. Diese Verkündung beginnt dann eine Stunde und 16 Minuten nach Take-off der Challenger: Um 8.09 Uhr geht ein Computerfax an die Anwältin von Sami A., um 8.10 Uhr wird das Bamf informiert. Und um 8.15 Uhr wählt Gelsenkirchen die Faxnummer der Ausländerbehörde in Bochum an, des zuständigen Amtes. Bochum bearbeitet die "Causa Sami A.", weil der Tunesier dort seit Jahren mit deutscher Frau und vier Kindern wohnte.

Nun kracht es zwischen Justiz und Politik. Bild meldet die Abschiebung, und das Gelsenkirchener Gericht telefoniert gegen kurz vor neun Uhr mit der Ausländerbehörde in Bochum, weil die Anwältin von Sami A. am Vorabend noch einen Eilantrag auf Abschiebeschutz gestellt hat. Bochum bekundet, man könne "nichts" sagen. Um 9.15 Uhr landet die Challenger auf dem Flugfeld von Enfidha, knapp hundert Kilometer südlich von Tunis. Sami A. wird den Behörden des nordafrikanischen Landes übergeben. Noch um 9.25 Uhr unternimmt das Gelsenkirchener Gericht einen letzten Versuch, die Abschiebung abzuwenden: Eine Richterin belehrt die Ausländerbehörde in Bochum: Sollte sich Sami A. "noch im Transitbereich des Zielflughafens befinden", so sei der Mann unverzüglich "zurückzufliegen". Das Amt in Bochum beteuert, man habe jedoch "keine Kenntnis von den Flugdaten".

Zur selben Zeit muss NRW-Minister Stamp sich in Düsseldorf der Fragen von Journalisten erwehren. Der FDP-Politiker, zuständig auch für Kinder und Familie, wollte eigentlich über mehr Geld für mehr Kitas reden. Nun entgleisen seine Gesichtszüge, da er den Crash im Fall Sami A. wahrnimmt. Er habe nichts gewusst von dem Abschiebeverbot aus Gelsenkirchen. Genauere Erklärungen verweigert er, da er zu "laufenden Verfahren" nicht Stellung nehme. Tatsächlich rollt das Verfahren weiter: Das Land NRW will das Abschiebeverbot vor dem Oberverwaltungsgericht anfechten - und diesmal rechtmäßig verhindern, dass Sami A. je wieder deutschen Boden betreten darf.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2018/jael
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