Sahra Wagenknecht:Die Frau, die geht und bleibt

Sahra Wagenknecht

Sahra Wagenknecht, 50, immer noch Ko-Fraktionschefin der Linken im Bundestag.

(Foto: dpa)

Sahra Wagenknecht hatte im März angekündigt, sich aus der ersten Reihe der Linken zurückzuziehen. Als ob das so einfach wäre.

Von Boris Herrmann, Berlin

Kurz bevor es losgeht, wächst vor dem Kassenhäuschen des Berliner Pfefferberg-Theaters immer noch die Warteschlange. Dabei gibt es hier gar nichts mehr zu kaufen. "Seit Wochen alle Karten weg", sagt die Kassenhäuschenfrau. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, auf der Bühne trete gleich Greta Thunberg auf oder - dem Altersschnitt in der Schlange nach zu urteilen - auch die Puhdys. Tatsächlich wird hier sehnsüchtig erwartet: die demnächst ehemalige Fraktionsvorsitzende einer Partei, die zuletzt eine Wahlschlappe nach der nächsten einsteckte und sich seither "ehemalige Volkspartei des Ostens" nennen lassen muss. Sahra Wagenknecht hat bereits im März angekündigt, sich aus der ersten Reihe der Partei Die Linke zurückzuziehen. In den Theatersaal drängeln jetzt jene, die sich fragen: Warum eigentlich?

Sie ist immer noch der Popstar der Linken, von vielen verehrt und von mindestens genau so vielen verachtet. Anlass ihres Auftritts im Pfefferberg ist die Präsentation ihrer Biografie, die der Sozialpsychologe Christian Schneider verfasst hat. Wer mit 50 Jahren schon eine Biografie bekommt, hat normalerweise beim "Dschungelcamp" eine tragende Rolle gespielt oder zumindest eine Fußball-WM gewonnen. Wagenknecht hat Hegel und Marx gelesen, Goethes "Faust" auswendig gelernt, Oskar Lafontaine geheiratet, fast 30 Jahre Politik gemacht und dabei so viel Porzellan zerschlagen, dass es allemal für 245 interessante Seiten reicht.

Licht aus, Spot an, Bühne leer. Wagenknecht lässt ihre Gemeinde noch ein Weilchen zappeln. Sie kommt verspätet von einer Veranstaltung im Gemeinschaftshaus Berlin-Lichtenrade. Dort hat sie mit Kevin Kühnert über die Frage "Das Land verändern, aber wie?" diskutiert. Zentrale Erkenntnis war, dass es gar nicht so viel zu diskutieren gab, weil sie sich mit dem Juso-Chef Kühnert, dem Beinahe-SPD-Vorsitz-Kandidaten, inzwischen deutlich besser versteht als mit den meisten Führungsfiguren ihrer eigenen Partei.

Zur Debatte mit Kühnert hatte die Sammlungsbewegung "Aufstehen" geladen, die gibt es also auch noch. Zwar nimmt die Öffentlichkeit davon kaum Notiz, seit sich die Gründerin Wagenknecht auch hier zurückgezogen hat. Aber der innerbetriebliche Schaden, den sie mit "Aufstehen" anrichtete, ist damit noch längst nicht aus der Welt geschafft. Wagenknecht stand im Verdacht, eine Konkurrenz zur eigenen Partei aufzubauen. Zumal sie sich gleichzeitig von Positionen distanzierte, die mit breiter Mehrheit ins Parteiprogramm gelangten. Etwa eine Politik der offenen Grenzen angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise. Damit stellte sie aus Sicht vieler Genossen einen Grundwert der linken Bewegung infrage, die internationale Solidarität.

Vor allem mit der Parteivorsitzenden Katja Kipping, 41, lieferte sie sich seither einen Dauerstreit, der an Selbstzerfleischung grenzte. Das hatte sicherlich auch programmatische Gründe, aber eben nicht nur. Immer wieder wurde es auch persönlich. Inzwischen haben sich beide vorgenommen, ihre Worte zu zügeln. Aber Unterstellungen unterstellen sie sich weiterhin, wenn man die eine nach der anderen fragt. Inhaltlich wirft Wagenknecht Kipping vor, die Linke als "hippe Großstadt-Partei" zu inszenieren und die abstiegsbedrohte Mittelschicht, die Abgehängten und Frustrierten in den ländlichen Regionen des Ostens der AfD zu überlassen. Wagenknecht, deren Vater aus Iran stammte, sprach sich dafür aus, die Zuwanderung zu begrenzen. Kipping wiederum hält es für fatal, Angela Merkel von rechts zu kritisieren und sich dafür von Rechtspopulisten bejubeln zu lassen.

Warum hat sie immer so viel Publikum? Ihr Biograf hat da einen Vergleich - mit Zarinnen

Gleichwohl wäre es unpräzise, alles auf einen Flügelkampf zwischen zwei Frauen zu reduzieren. Es gibt im Tierreich wohl keine Spezies, die so viele Flügel besitzt, wie es Streitfronten bei den Linken gibt. Das hat nicht nur dem Ruf der Partei schwer geschadet, sondern auch Wagenknecht ganz persönlich. Sie erzählt, der Job an der Spitze einer Fraktion, in der sie keinen Rückhalt spürte, habe ihr mit zunehmender Dauer das Gefühl gegeben, ständig nur das zu tun, was sie am schlechtesten könne: "diese interne Netzwerkerei". Das habe sie so viel Kraft gekostet, dass sie krank wurde. Burnout. Im März zog sie "die Reißleine", wie sie sagt. Das ist jetzt mehr als ein halbes Jahr her, aber das mit der Reißleine hat nur bedingt geklappt. Wagenknecht ist immer noch Teil der Fraktions-Doppelspitze an der Seite von Dietmar Bartsch. Dabei würden viele, inklusive sie selbst, tief durchatmen, wenn es endlich vorbei wäre. Wagenknecht will keine Berufspolitikerin mehr sein. Sie sagt: "Ich glaube, dass ich mehr verändern kann, wenn ich wieder mehr Zeit habe, zu lesen und zu denken."

Ursprünglich war angekündigt worden, noch vor dem Sommer ihre Nachfolgerin zu wählen. Weil sich aber abzeichnete, dass es keine Konsenskandidatin geben würde und sich die Linken selbst gut genug kennen, um zu wissen, dass eine Kampfabstimmung nicht so reibungslos abliefe wie neulich bei den Grünen, wurde der Termin mit Blick auf die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen in den Spätherbst verschoben. Inzwischen läuft es auf Anfang 2020 hinaus, wenn klar ist, ob die große Koalition die Weihnachtszeit übersteht. Falls es Neuwahlen gibt, könne man dann gleich die Spitzenkandidaten mitbestimmen, argumentiert Bartsch. Spätestens im Frühsommer 2020 müsste auch der Parteivorsitz neu gewählt werden, den sich Kipping seit 2012 mit Bernd Riexinger teilt. Es lässt sich leicht erahnen, aus welcher Ecke der Ruf nach einen kompletten personellen Neuanfang kommt. Damit aus dieser Schlammschlacht zumindest niemand als Sieger hervorgeht.

Als sicher gilt: Wagenknecht wird bei der anstehenden Spitzenpostenvergabe keine Rolle mehr spielen, dennoch ist sie weiterhin omnipräsent. Denn nahezu alle strategischen Entscheidungen in dieser Partei werden entlang der Frage diskutiert: Wie hältst du's mit der Sahra?

So ganz erschließt sich nicht, warum im Pfefferberg auch Stefan Aust, der Herausgeber der Welt, auf der Bühne sitzt. Aust erzählt, Lafontaine habe ihn darum gebeten. Na dann. Aust erzählt überhaupt sehr viel, was nur mittelbar mit Wagenknecht zu tun hat. In jenem Teil seines Vortrags, der sich um die Protagonistin des Abends dreht, hält er eine Laudatio auf ihren Nonkonformismus. Damit meint er explizit ihre Position in der Flüchtlingsfrage. Außerdem findet Aust das Wagenknecht-Buch lesenswert, weil darin nicht ein einziges Mal das Wort "Klima" auftauche. Dafür gibt es vereinzelte Buhrufe auf den Rängen.

Sahra Wagenknecht dagegen kann sagen, was sie will, sie wird bejubelt. Aber sie erweckt nicht den Eindruck, als würde sie die Zuneigung genießen. Sie nimmt das emotionslos zur Kenntnis. Eine der Fragen, die sie umranken, ist ohnehin, warum sie bei ihren Auftritten so unverschämt gut ankommt, obwohl sie eher wie eine Studienrätin redet. Ihr Biograf erzählt von einem Weggefährten Wagenknechts, einem Berater und Psychologen. Der habe ihr gesagt, sie erinnere ihn an die Fotos der letzten Zarentöchter: "Glauben Sie bloß nicht, dass die Leute kommen, um Ihnen zuzuhören. Die starren Sie einfach an, denn: Im Geheimen lieben alle Linken Zarinnen."

Darauf könnten sich womöglich sogar die Fans und Gegner Sahra Wagenknechts einigen: Sie wirkt wie ein Wesen aus einer fremden Welt und Zeit.

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