Süddeutsche Zeitung

Landtagswahl in Sachsen:Görlitz wählt Kretschmer - und verhindert die AfD

Der Ministerpräsident profitiert in seinem Wahlkreis von einem ähnlichen Bündnis, wie es sich bei der Bürgermeisterwahl zusammengetan hat. Mit der CDU sind viele in der Stadt hingegen unzufrieden.

Von Antonie Rietzschel, Görlitz

Es ist später Sonntagabend, als Anselm Hofmann sich entscheidet, das verschwitzte graue T-Shirt auszuziehen. "Team Kretschmer" steht darauf in grünlicher Schrift. Hofmann hat sechs Wochen Wahlkampf in der sächsischen Stadt Görlitz hinter sich. Er half Ministerpräsident Michael Kretschmer beim Würstchengrillen und beim Bierzapfen. Er baute Pavillons auf und wieder ab, stand bis spät in die Nacht am CDU-Stand. Am Wahlabend war der 32-Jährige einer der Ersten im Restaurant "Da Vinci". Hofmann richtete unter dem steinernen Gewölbe Laptop und Beamer aus für die Wahlparty. Im Gesicht hatte er rote Flecken. Es war heiß. Er war aufgeregt.

Gegen 21 Uhr sagt jemand: "Kretschmer ist durch". Heißt: Er hat seinen Wahlkreis Görlitz 2 gewonnen. Drinnen starren sie auf die Leinwand. Kein Jubel. Draußen auf der Terrasse steht Hofmann. Im Hemd. Er sieht blass aus. Die Augen sind gerötet. Er fragt sich selbst: "Hat sich der Aufwand gelohnt?" Das Ergebnis der Zweitstimmen macht ihn ratlos. Die AfD hat ihre Zustimmungswerte im Wahlkreis im Vergleich zu 2014 fast verdreifacht auf 37,9 Prozent. Kretschmer mag das Direktmandat gewonnen haben, stärkste Kraft wurde die AfD, nicht die CDU. "Wir konnten die Menschen nicht von der Partei überzeugen", sagt Anselm Hofmann.

Kretschmer war bereits vor der Landtagswahl beliebt. Doch seine hohen Zustimmungswerte scheinen mitunter derselben Logik zu folgen, die zuletzt die Wahl zum Görlitzer Oberbürgermeister bestimmte. Damals hatten sich im ersten Wahlgang noch Kandidatinnen der Linken und Grünen zur Wahl gestellt. Beim zweiten Durchlauf Mitte Juni entschied sich ein breites Bündnis aus Parteien und Initiativen jedoch für Octavian Ursu, den Kandidaten mit CDU-Parteibuch. Nicht aus Überzeugung. Sie wollten den Sieg von AfD-Kandidaten Sebastian Wippel verhindern.

Zur Landtagswahl kam es in der Europastadt nahe der polnischen Grenze wieder zu einem politischen Showdown: Wippel gegen Kretschmer. Wieder entschieden sich Wähler, entgegen ihrer politischen Überzeugung abzustimmen. Um einen Triumph der AfD zu verhindern. Kretschmer kam auf 45,8 Prozent. Er holte in seinem Wahlkreis 3600 Stimmen mehr als seine eigene Partei. Die bekam er vor allem von Wählern der Linken, SPD und Grünen. Von Menschen wie Nadja Liebert. Sie hat stets ihr Kreuzchen bei den Grünen gemacht. Sie hätte gerne deren Direktkandidatin unterstützt. Stattdessen gab sie ihre Erststimme Michael Kretschmer. Ihr ist das peinlich. Die 34-Jährige will deswegen nicht ihren richtigen Namen nennen. "Ich hatte Angst, dass er nicht mehr als Ministerpräsident antreten kann, wenn er hier verliert", sagt Liebert. Kretschmers Einzug in den Landtag wäre zwar über den Listenplatz gesichert gewesen. Doch hätte er wie zur Bundestagswahl 2017 seinen Wahlkreis verloren, seine politische Zukunft wäre fraglich gewesen. Liebert hat sogar mit Freunden vor der Wahl einen Flyer aufgesetzt, der über das Prinzip der Direktmandate aufklärte und indirekt für Kretschmer warb. Sie überschrieben ihn mit dem Slogan: "Früher ging es um Bananen. Heute geht es um die Wurst."

Nein zur CDU. Ja zu Kretschmer

Anders als Nadja Liebert hat Mike Altmann schon viele Parteien gewählt: Grüne, Linke, FDP, SPD. Er ist ein klassischer Wechselwähler. Familien, die über Generationen dieselbe Partei wählen, sind in Ostdeutschland selten. Das Einzige, worauf sich der 45-Jährige festlegen mag: Nein zur CDU. Ja zu Kretschmer.

Der Ministerpräsident und Altmann sind fast gleich alt und grundverschieden. Altmann ist in Königshufen groß geworden, in einem Plattenbau im Westen der Stadt, Kretschmer in Weinhübel, im Süden. Kretschmer wurde 1989 Mitglied in der CDU. Altmann verehrte Helmut Schmidt. Als Jugendliche sind sich nie begegnet. Wo auch? Die heute beliebte Altstadt war damals noch als Arme-Leute-Viertel verschrien. Die Rabryka, jetzt ein soziokulturelles Zentrum, war damals noch eine Hefefabrik, die gärige Geruchswolken verströmte.

Altmann und Kretschmer lernten sich erst Mitte der Neunziger Jahren kennen. Kretschmer saß im Stadtrat, Altmann schrieb für die Sächsische Zeitung. Die CDU hielt er für eine piefige Altherren-Partei. An diesem Urteil hat sich nicht viel geändert - wohl aber an der Einschätzung zu Kretschmer. Früher hielt er ihn für einen Kofferträger, einen Schleimer. Heute sieht er in ihm einen Verbündeten.

Nach seiner Arbeit als Journalist und Moderator wurde Altmann Berater. Erst half er Arbeitslosen bei der Suche nach Jobs. Mittlerweile unterstützt er Unternehmen, die in der Region händeringend nach Personal suchen. Vor ein paar Jahren kam er mit Bekannten auf die Idee, einen Praxistag an Schulen einzurichten. Schüler der siebten bis zehnten Klasse sollten die Möglichkeit bekommen, regelmäßig bei Unternehmen der Region reinzuschnuppern. Es gab eine Modellschule und 30 Unternehmen, die sich für einen Testlauf bereit erklärten. Als sich das Kultusministerium in Sachsen dagegen sträubte, ging Altmann zu Kretschmer. Heute gibt es das Prinzip des Praxistages sachsenweit.

Altmann ist heute auch politisch aktiv, sitzt für den Bürgerverein Motor Görlitz im Stadtrat. Er ist überzeugt: Ohne Kretschmer gäbe es kein Industriegebiet in Kodersdorf, keine Ansiedlung von IT-Firmen. So hoch Altmanns Wertschätzung für Kretschmer auch ist: Fragt man ihn nach der sächsischen CDU, bleibt von der Zuneigung nichts übrig. Er bezeichnet die Partei als "machtbesoffen" und "arrogant". "Die CDU hat jahrelang eine Leuchtturmpolitik gemacht und sich nicht um den ländlichen Raum gekümmert", sagt er. Schulschließungen, Streichungen beim Öffentlichen Nahverkehr, Mangel an Polizisten - die CDU hat im Wahlkampf versprochen, das zu reparieren, was sie selbst verbockt hat. So sieht es Altmann. So sieht es Nadja Liebert. Kretschmer haben sie ihre Stimme gegeben, weil er vor der Landtagswahl eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen hat.

Auch in Görlitz selbst war nach der Oberbürgermeisterwahl die Hoffnung groß, dass sich die hiesige CDU im Stadtrat nicht mit der AfD solidarisiert - obwohl die Partei stärkste Kraft ist. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Bei der Wahl der Kandidaten für den Ausschuss Umwelt und Ordnung unterstützte die CDU vor wenigen Tagen einen Bewerber der AfD mit Sympathien für die rechtsextreme Identitäre Bewegung. Ohne Not. Die Stimmen der eigenen Fraktion hätten ausgereicht. Sie tat es trotzdem. Das hat selbst überzeugte CDUler wie Anselm Hofmann schockiert. Er erfuhr davon mitten im Wahlkampf. Hoffmann stand auf dem Marienplatz in der Görlitzer Innenstadt, trug das graue T-Shirt mit der grünlichen Schrift. Zu ihm kamen Leute, die ihm ins Gesicht sagten, sie würden der CDU jetzt sicher nicht ihre Stimme geben. So erzählt es Hofmann. Er will das im Kreisverband ansprechen. Doch er weiß auch: Der Wahlkampf ist vorbei, Kretschmer weit weg und die AfD stärkste Kraft im Wahlkreis. Sie müssen damit jetzt klarkommen. Irgendwie.

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