Süddeutsche Zeitung

Sachsen in der Kritik:Sachsen - das Land der Trottel?

Al-Bakr, Clausnitz, Heidenau - Sachsen hat viel Anlass für Kritik gegeben. Doch die fällt oft zu pauschal aus. Der CDU von Ministerpräsident Tillich dient das häufig als Ausrede, um Probleme nicht anzupacken.

Kommentar von Cornelius Pollmer, Dresden

Glaubte man alles, was im Internet steht oder auf dem Cover des einen oder anderen Magazins, man müsste als Sachse in diesen Tagen ein paar Dinge überprüfen: die Alarmanlagen an Heim und Datsche, den Impfausweis, die Vorräte in Frost und Keller.

Reichen Kartoffelsuppe und Radeberger in der Not für ein paar Wochen? Und wo bleibt diese Not eigentlich, die aus der Ferne doch längst attestiert worden ist, die Not im "dunkelsten Bundesland", dem angeblichen "failed state" Sachsen? Noch fährt die Tram schließlich, noch öffnen Geschäfte, Gerüchten zufolge schien am Sonntag sogar vereinzelt die Sonne.

Es hat im Freistaat Sachsen reales Versagen gegeben in den vergangenen Wochen. Die Polizei ließ den Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr zwei Mal entwischen. Gefasst wurde er schließlich von drei Syrern mit dem Kabel einer Mehrfachsteckdose. Al-Bakr wurde der Justiz übergeben, die aber konnte seinen Suizid nicht verhindern. All dieses Versagen erfordert Aufklärung.

Adäquat wäre es, im Dienste dieser Aufklärung genaue Fragen zu stellen: Ermöglichten unzureichende Strukturen Flucht und Sterben al-Bakrs? Wer machte welche Fehler? Wer sollte deswegen Konsequenzen tragen? Für diese Fragen aber ist kaum Platz. Das liegt an den Kritikern wie an den Kritisierten.

Bürger sind rechts, Politiker Idioten - und Polizisten beides

Zu den Kritikern. Anlässe für Sachsen-Debatten gab es in der jüngeren Vergangenheit viele. Vor dem Fall al-Bakr lärmten am Tag der Deutschen Einheit Hunderte mit Trillerpfeifen vor der Dresdner Frauenkirche. Wiederum davor: Bautzen, Clausnitz, Heidenau . . . - um nur die prominenten Chiffren der Schande zu nennen, die Hits unter den vielen Hashtags.

Allein diese Häufung genügt vielen Kritikern, sich immer wieder einer gefährlichen Sehnsucht nach Vereinfachung hinzugeben. Allein diese Häufung ist ihnen Beleg genug für das, was sie schon immer zu wissen glaubten: Nichts ist gut in Sachsen. Die Bürger sind rechtsradikal, Politiker Idioten, Polizisten beides. Keine weiteren Fragen. Die Empörung der Bescheidwisser und Rhabarberlaberer ist oft gratismutig, manchmal scheinheilig.

Viele Kritiker finden ihr Generalurteil, ohne Ermittlungen in der konkreten Sache anzustellen. Viele rühmen sich angeblich unbequemer Wahrheiten, wo sie nur bequeme Ungenauigkeiten vortragen. Das Hässlichste an der Pauschalkritik aber ist die ihr zugrunde liegende Ignoranz, das mangelnde Interesse an den genauen Verhältnissen. Stattdessen gibt es wieder und wieder eine neue Runde Hau den Ronny. Sachsen, das ist das Land der Trottel, der Staat des Bösen. Sachsen lässt sich ziemlich gut rumschubsen.

Zu den Kritisierten. Die genauen Verhältnisse in Sachsen sind kritikwürdig, das sind sie unabhängig vom Fall al-Bakr. Zu Sachsens Problemen gehört, dass es nur fünf Prozent der Asylbewerber in Deutschland aufnehmen muss, hier aber ein Fünftel aller fremdenfeindlichen Angriffe zu verorten ist.

Zu Sachsens Problemen gehören mangelnde Fehlerkultur und Duckmäusertum in einer CDU, der es nach 26 Jahren an der Macht erkennbar an mutigem Personal und an Lektionen in Demut fehlt. Diese CDU agiert und regiert nach Schönwetterbefehl, und wer mal nicht alles sofort bejubelt, dem wird Landesverrat nachgesagt.

Wie sollen in so einem Klima Enthemmung und Rechtsradikalismus diagnostiziert und politisch beantwortet werden? Wie lassen sich krankgesparte Hoheitsgebiete wie Bildung, Justiz und Polizei kurieren, wenn in der Leistungsdiagnostik à la CDU als Kriterium allein der Haushalt interessiert? Zu den Problemen Sachsens gehört auch ein Ministerpräsident Stanislaw Tillich, der bei der Beantwortung dieser Fragen nicht vorangeht.

Ödes Blockade-Ritual

In den vielen Tagen der Krise zeigt sich, woran es Tillich empfindlich fehlt: Er hat sich als konfliktscheu erwiesen, wo es ein starkes Wort gebraucht hätte. Er zog sich, wie so oft, lieber zurück, als die Präsenz eines Regierungschefs vonnöten gewesen wäre. Zum Schönwetterbefehl gehört wohl auch der Glaube, jede noch so düstere Unwetterfront werde sich irgendwann schon von selbst verziehen.

Trüber wird die Angelegenheit noch dadurch, dass Kritik und Kritisierte sich gegenseitig blockieren. Es ist längst ein Ritual geworden, eine öde Fête de la Critique: Jede Pauschalkritik macht es der CDU leicht, an der Taktik des Abwiegelns festzuhalten.

Jede Generalisierung erlaubt es ihr, sich und das Land als Opfer zu stilisieren - und so abzulenken von den konkreten Problemen, die dieselbe CDU hat gedeihen lassen und die zu lösen sie entweder nicht bereit oder nicht in der Lage ist. Das ist das eigentliche Drama Sachsens: Der übertriebene Argwohn der anderen dient der CDU allzu oft als Ausrede, um reale Probleme nicht anzupacken.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2016/jana/gal
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