Süddeutsche Zeitung

Sachsen:Denkzettel

Die Landes-CDU hat sich vorgenommen, ihr Wahlprogramm mit Bürgern zu erarbeiten. Über Begegnungen der unverblümten Art zwischen Bautzen und Markkleeberg.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Es geht ein Graben durch Markkleeberg. Die Straße am Bahnhof wird saniert, das Pflaster ist aufgerissen. Senioren laufen Slalom auf den staubigen Schotterpisten. An die Wand der Unterführung hat jemand gesprüht: "Hier ist es zu sauber." Allen kann man es ja nie recht machen, das wissen sie bei der sächsischen CDU. Aber möglichst viele sollten es schon sein, im Superwahljahr Ost. Zu dessen Beginn hatte die Partei verkündet, man wolle das Programm zur Landtagswahl im Herbst nicht wie üblich in den eigenen Reihen, sondern mit Bürgern erarbeiten. "Ideenwerkstätten" heißen die Abende, an denen die Sachsen in den vergangenen Monaten Vorschläge unterbreiten konnten zu Bildung, Pflege, Wirtschaft. In Markleeberg lautet das Thema: "Heimat in Stadt und Land".

Es ist der nächste logische Schritt für eine Partei, die nach fast drei Jahrzehnten an der Macht das Zuhören entdeckt hat. Der Ministerpräsident reist seit Amtsantritt mit dem Habitus eines Motivationstrainers in die hintersten Winkel des Freistaates, um für "ein Land voller stolzer und fröhlicher Menschen" zu werben. Jetzt, wo ihn die Sachsen kennen, kämpft er darum, dass sie ihn auch wählen oder vielmehr: seine Partei. Denn obgleich Michael Kretschmer als Person mehrheitsfähig ist, schwächelt die sächsische Union. Der Abstand zur AfD beträgt wenige Prozentpunkte. Im Ländlichen ist die CDU vielerorts überholt.

Im Markkleeberger Rathaus riecht es nach Bockwurst, an der Garderobe herrscht Funktionsjackenstau. Bier, informiert ein Schild, gibt es hinterher. Besucher sind aufgerufen, ihre Anliegen auf Zettel zu schreiben und an eine Tafel zu heften. Es gibt Magnete in Form des Gefällt-mir-Daumens, aber kein stabiles Wlan. Anschließend wird diskutiert, in sachlichem Ton. Dann betritt Werner J. Patzelt den Saal, grüßt wie jemand, der vergessen hat, dass er Kopfhörer trägt: zu laut.

Der Politikprofessor a. D. schreibt mit am Wahlprogramm der Sachsen-CDU. Die Frage, ob er den schwärzesten aller Landesverbände in Richtung Hellblau führt, ist oft gestellt und genauso oft von Patzelt abgeschmettert worden. Unstrittig ist, dass der Mann, der nun als Parteisoldat auftritt, zuvor eher als Politiksöldner auf sich aufmerksam machte: 2015 beriet er noch die AfD, wie der CDU beizukommen sei, hätte dies nach eigenem Bekunden aber auch für SPD und Grüne getan. Nur haben die nicht gefragt, was auch mit Patzelts Ruf als "Pegida-Versteher" zu tun haben dürfte.

Patzelt hat seine Partei oft für die Lücke nach rechts gescholten. Nun füllt er sie kurzerhand selbst

Patzelt, seit 1994 CDU-Mitglied und kürzlich der konservativen Werteunion beigetreten, hat auch die eigene Partei kritisiert für die "Repräsentationslücke" nach rechts, die er nun kurzerhand selbst füllt. Wenn er mit donnernder Stimme vom "Aufstieg des Sachsenlandes" spricht, über die CDU und die "Rückkehr des Originals", dann herrscht Stille in Kreischa, Bautzen, Markkleeberg. Patzelt nutzt sie, um Botschaften für jene Sachsen zu platzieren, die nicht mehr fröhlich, nur noch stolz sind: "Diejenigen, die schon länger in diesem schönen Land leben, müssen sich der Vorstellung anbequemen, dass Menschen nicht nur weiß oder braun sein können, sondern auch schwarz und rot und gelb. Was nebenbei die Nationalfarben sind."

Am Stehtisch lächelt Generalsekretär Alexander Dierks wie ein Kunstturner im Spagat. Er ist neben Patzelt Vorsitzender der Programmkommission, hörbar in Bietigheim-Bissingen geboren, und von gedrosseltem Temperament. Als am 1. Mai in Plauen Neonazis marschierten, war Dierks in seinem Wahlkreis Chemnitz auf der Straße, für das Bündnis "Aufstehen gegen Rassismus". Zum Auftakt der Ideenwerkstätten in Dresden hat er einen bemerkenswerten Satz gesagt: "Damit Selbstbewusstsein nicht zur Arroganz wird, braucht es Demut. Wer behauptet, in 28 Jahren immer alles richtig zu machen, der hat mit Sicherheit unrecht." Sollte das C in CDU tatsächlich einmal für "culpa" stehen, für das Eingestehen von Versäumnissen bei Lehrermangel, Polizeireform, Rechtsextremismus?

"Hier ist noch das wahre Deutschland", sagt ein Bautzener. Niemand fragt nach, was er meint

Auch die Ideenwerkstatt in Bautzen ist gut besucht. Der Fraktionsvorsitzende Christian Hartmann ist da, Michael Kretschmer wird mit Applaus empfangen. Im Saal des Hotels "Residence": viel graues Haar, ein Paar Hosenträger in schwarz-rot-gold, über den Köpfen eine Discokugel.

Recht, Sicherheit, Freiheit heißen die Themenblöcke. Und dass die 300 Besucher bis zum Wurstbuffet stehen, hat damit zu tun, dass auch durch Bautzen ein Graben geht. Mehrfach ist die Stadt in der Vergangenheit in die Schlagzeilen geraten, als es zu Jagdszenen auf dem Marktplatz kam, eine geplante Flüchtlingsunterkunft brannte, die Bloggerin Annalena Schmidt Morddrohungen erhielt, weil sie beharrlich Neonazistrukturen in der Stadt anprangert.

Für die Parteispitze ein heikler Termin: Neben Wolf und Strukturwandel ist das Thema innere Sicherheit wahlkampfbestimmend, auch weil ein Teil der Sachsen der AfD auf diesem Gebiet mehr zutraut als der CDU. Die steht vor allem in grenznahen Regionen vor der Aufgabe, sich als Partei der harten Hand zu profilieren, ohne das Geschäft des Gegners zu besorgen.

Als ein Bautzener feststellt: "Hier ist noch das wahre Deutschland", fragt keiner nach, was damit gemeint sein soll. Als ein anderer für straffällig gewordene Asylbewerber fordert: "Briefmarke auf den Arsch und ab nach Hause", lobt Kretschmer die "unverblümte Art der Lausitzer". Erst als ein Besucher vorschlägt, doch "eine Reserve aus dem Volk zur Unterstützung der Polizei" zu stellen, eine Bürgerwehr also, widerspricht Christian Hartmann: "Der Staat hat das Gewaltmonopol." Aber da sind auch Flüchtlingspaten, die das Wort ergreifen in Bautzen. Polizeischüler beklagen, gut integrierte Menschen abschieben zu müssen. Als sich jemand über die Arbeit von Annalena Schmidt beschwert, ist Kretschmers Botschaft klar: "Ich werde mich immer vor solche Leute stellen, selbst wenn ich nicht ihrer Meinung bin. Das ist ein Angriff auf unsere Werte."

1500 Sachsen haben an den sechs Ideenwerkstätten teilgenommen, stets dabei: tapfere Partei-Protokollanten. Haben sie wirklich jeden Redebeitrag notiert, zur Markkleeberger Dreifelderhalle, zur B178 zwischen Weißenberg und Löbau, zum Forellensterben in Nedaschütz? Oder findet sich in den gesammelten Schriften das ein oder andere Nikolaushaus? Wie viel Bürger steckt im Wahlprogramm der CDU?

Viele Vorschläge seien kommunaler Natur gewesen, räumt Alexander Dierks bei der Präsentation des Entwurfs ein. 200 hätten es ins Programm geschafft. Die 66 Seiten tragen den Titel "Von Sachsen. Für Sachsen" und lesen sich erst mal nicht wie verschriftlichter Volkswille, sondern wie ein klassisches CDU-Papier: mehr Befugnisse für Polizei und Verfassungsschutz, Landarztquote für Medizinstudenten. Neu ist der Satz: "Rechtsextremismus ist in Sachsen ein besonderes Problem."

Bei der CDU legen sie Wert auf die Feststellung, dass der Programmprozess nicht abgeschlossen ist, bis zum Parteitag im Juni noch mit Überraschungen zu rechnen sei. Bis dahin sammeln sie weiter Stimmen und Stimmungen, online auf einem Debattenportal. Unklar, ob es an Bock oder Bockwurst mangelt, aber verglichen mit den analogen Abenden ist die Beteiligung mau. Knapp 300 Wünsche sind nachzulesen: Einer stammt von Stefan F.: "Sachsen gegenüber dem Rest der Bundesrepublik wieder positiv dastehen sehen."

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Quelle:
SZ vom 10.05.2019
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