Sachsen-Anhalt:Ein Abend im September

Prozess um tödliche Auseinandersetzung in Köthen

Hedajatullah H., einer der beiden Angeklagten aus Afghanistan, verbirgt im Dessauer Landgericht sein Gesicht vor den Kameras.

(Foto: Sebastian Willnow/dpa)

Ein Mann stirbt, Neonazis demonstrieren: Das erlebte 2018 auch Köthen. Nun stehen zwei Afghanen vor Gericht.

Von Antonie Rietzschel, Dessau

Die Entschuldigung kommt wie ein Schwall über die Lippen von Ezatullah M. "Ich möchte der Familie mein Bedauern aussprechen. Es tut mir leid, dass dieser Unfall passiert ist. Ich weiß, wie es ist, einen lieben Menschen zu verlieren", liest der 17-Jährige von einem zerknitterten Blatt Papier ab. Gemeinsam mit seinem Freund Hedajatullah H., auch er aus Afghanistan, muss M. sich seit Dienstag vor der Jugendkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau wegen gefährlicher Körperverletzung und Körperverletzung mit Todesfolge verantworten. M. hat sich dagegen entschieden, die Entschuldigung in seiner Heimatsprache Dari vorzutragen und übersetzen zu lassen. Seine Worte sind schwer zu verstehen, und doch treiben sie der kleinen, rundlichen Frau, die ihm gegenüber sitzt, die Tränen in die Augen.

Es ist die Mutter von Markus B. Ihr Sohn starb am Abend des 8. September 2018 in Köthen, Sachsen-Anhalt, offenbar nachdem er einen Streit zwischen Flüchtlingen schlichten wollte. Die Familie von Markus B. verlor einen geliebten Menschen. Und die Stadt Köthen geriet mit ihren 28 000 Bewohnern in die Schlagzeilen, weil rechtsextreme Gruppen den Tod des 22-Jährigen missbrauchten. Zu einem spontan angemeldeten "Schweigemarsch" kamen 2500 Menschen, darunter bekannte NPD-Politiker und Neonazis, die vom "Rassenkrieg gegen das deutsche Volk" sprachen.

Stadt und Land reagierten schnell, um Verhältnisse wie in Chemnitz zu verhindern, wo Rechtsextreme nur knapp zwei Wochen vorher den Tod eines Deutsch-Kubaners instrumentalisiert hatten. Polizei und Justiz informierten über Ermittlungsergebnisse und widersprachen offensiv angeblichen Zeugenaussagen, die in sozialen Netzwerken kursierten. Dennoch hielt sich das Gerücht, Markus B. sei von Afghanen ermordet worden, selbst dann noch hartnäckig, als bekannt wurde, dass er an einem Herzinfarkt starb. Womöglich ausgelöst durch einen angeborenen Herzfehler und den Stress der Auseinandersetzung.

Der Staatsanwaltschaft zufolge soll der 18-jährige Hedajatullah H. im Streit einen Landsmann geschlagen haben. Als Markus B. dazwischenging, so die Anklageschrift, bekam er von Ezatullah M. einen Schlag ins Gesicht und ging zu Boden. Hedajatullah H. soll ihm dann noch einen Tritt verpasst haben. Die Familie von Markus B. tritt im Prozess als Nebenkläger auf. Beide Angeklagte stritten jegliche Schuld am Tod von Markus B. ab. Ezatullah M. spricht von einem "tragischen Unfall".

Die Vorsitzende Richterin, Staatsanwaltschaft und Anwälte bemühen sich, das Geschehen in allen Details zu rekonstruieren. Keine leichte Aufgabe, wie die Einlassungen der Angeklagten zeigen. Ezatullah M. spricht von "Partystimmung", die am Abend des 8. September zunächst geherrscht habe. Zu Hause hätten er, Hedajatullah H. und ein weiterer Freund zwei Flaschen Wodka getrunken. Dann seien sie zum Stadtfest aufgebrochen, dem "Kuhfest, das der örtliche Karnevalsverein ausrichtet. Auf dem Weg seien sie zwei Bekannten begegnet, einer schwangeren Frau und einem jungen Afghanen. Die beiden Angeklagten hätten die junge Deutsche gefragt, von wem das Kind sei.

Die Angeklagten sagen beide aus, dass sie von einer Gruppe Deutscher angegriffen wurden

Ezatullah M. beschreibt die Begegnung als zufällig. Hedajatullah H. sagt dagegen, sie hätten die werdende Mutter zur Rede stellen wollen. Es kursierten Gerüchte, wonach, anders als von der Frau behauptet, nicht der beste Kumpel von Hedajatullah H. der Vater des Kindes sei. Auf einem Spielplatz in Köthen kam es zum Streit. Den Aussagen zufolge bestätigte die Frau den Verdacht: Ein gemeinsamer Bekannter sei der Vater. Eben jener saß neben ihr auf der Bank. Er soll, darin sind sich die Angeklagten einig, Hedajatullah H. beleidigt haben. Daraufhin schubste dieser den Landsmann von der Bank.

Die Angeklagten sagen übereinstimmend aus, dass sie anschließend von einer Gruppe Deutscher angegriffen wurden. Sie widersprechen sich jedoch in der Schilderung der Attacke. Ezatullah M. gibt vor, sich nicht erinnern zu können, woher die Männer gekommen seien. Sein Freund dagegen berichtet, dass sich in Sichtweite mehrere Männer aufgehalten hätten, mit Bierflaschen in der Hand. Sie seien herübergekommen, als sie sahen, dass sich die Männer auf dem Boden wälzten. Einer der Deutschen habe versucht, ihm ein Knie in den Bauch zu rammen.

Ezatullah M. spricht von Männern, die mit Holzlatten auf sie losgegangen seien. Sonst ist seine Schilderung sehr vage. Sein Freund will inmitten der Rangelei einen Mann wahrgenommen haben, der ihn leicht schubste - er habe das als Aufforderung wahrgenommen, wegzurennen. Was er schließlich auch tat. War der Mann Markus B.? Das können die Angeklagten nicht beantworten, sie kannten ihn nicht. Hedajatullah H. bestreitet, das Opfer geschlagen oder getreten zu haben. Auch Ezatullah M. sagt, er habe nicht zugeschlagen, einen Tritt will er nicht gesehen haben. Vom Tod von Markus B. habe er erst im Krankenhaus erfahren. "Es war der Schock meines Lebens", sagt er.

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