Saarland:Das kleine Dazwischen

Saarschleife

Die Saarschleife, aufgenommen vom Aussichtspunkt "Cloef" in Orscholz.

(Foto: dpa)

Vor 100 Jahren kam das Saarland unter Verwaltung des Völkerbunds. Die Saarländer schauen zurück und nach vorn. Die ganz große Feier für das kleinste deutsche Flächenland. Wieso eigentlich?

Von Gianna Niewel, Saarbrücken

Im Saarland sind die Bäume aus Traubenstielen. Jürgen Höll besprüht sie mit Kleber, beflockt sie, leimt sie auf eine Spanplatte. Er raschelt mit einer Schachtel, "die kommen dahin". Die einzig freie Fläche. Da steht ein Förderturm, da liegen Kohlehaufen. Mit dem Finger fährt Jürgen Höll über eine kleine Kaue, eine Wäscherei, ein Maschinenhaus. Er streicht über das Saarland im Maßstab 1 : 87.

Das Saarland begreifen wollen gerade viele. Am 10. Januar 1920 trat der Versailler Vertrag in Kraft. Er beendete den Ersten Weltkrieg offiziell. Der Vertrag regelte die Kriegsschuld, er begründete auch den Völkerbund, der das damalige Saargebiet als eigenständige Region verwaltete. Einfacher gesagt: Am Freitag feierte das Saarland sein einhundertjähriges Bestehen. In Saarbrücken sprach Ministerpräsident Tobias Hans, dann Außenminister Heiko Maas, dann ein Historiker. Von der einzigartigen Geschichte in Europa, dem Zusammenhalt der Menschen. Vom Stolz darauf. Zum Abschluss spielte das Staatsorchester die Nationalhymne.

Die ganz große Feier für das kleinste deutsche Flächenland. Wieso eigentlich?

Über Griesborn hängen die Wolken grau. Durch den Ort führen eine Hauptstraße und ein paar Nebenstraßen. Einfamilienhäuser, Stellplätze, getrimmte Hecken. Jürgen Höll hat sich in seinen Garten einen Baucontainer gestellt, sein Freizeitbereich, die Heizung bollert, und der 70-Jährige beginnt zu erzählen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Bergmann, wenn er nach Hause kam, rieselte Kohlestaub aus seinen Haaren. Als der Vater aufhörte, übernahm er dessen Stelle. "Aber im Versandbüro." Er schrieb auf, wie viele Tonnen die Männer förderten, und überlegte, wohin die verschickt werden könnten. Er setzte den Weg der Kohle über Tage fort.

Immer wieder wird diskutiert, ob man das Land nicht an Rheinland-Pfalz angliedern soll

Jürgen Höll ist ein Mann, der gerne saarländisch redet, er sagt nicht "ja", er sagt "ei joo". Und dass er schon immer handwerklich begabt gewesen sei. So kam eins zum anderen. Den Container hat er in mehrere Bereiche geteilt. In der Werkstatt steht die Werkbank, dahinter eine Wand aus Schubladen. Kabelstecker, Netzteile, Scharniere. Hier bastelt er, es riecht noch nach Kleber. Eine Tür führt in den nächsten Raum. Dort baute er Berge und Tunnel und Seen. Im Bergwerk fährt ein Aufzug unter Tage, er zeigt auf Männchen im Dunkeln, mit kleinem Helm und Schaufel. Als Nächstes will er einen Styroporbogen schwarz anmalen und durch Löcher LED-Lichterketten fädeln. Das sollen Explosionen sein.

Zweieinhalb Jahre lang ist er mit seinem Fotoapparat durch die Region gelaufen, hat Maße umgerechnet, Material besorgt. Er hat allein 150 Meter Gleise für die Eisenbahnloks verlegt und 600 Birnchen verschraubt. Auf fünf mal sechs Metern hat er das Saarland gebaut, wie er es sieht. Nur: Das Land gibt es so nicht mehr.

Das Saarland, das sind 17 Städte, 35 Gemeinden, sechs Landkreise. Das sind eine Universität, zwei Bahnhöfe mit ICE-Halt und ein Flughafen (die Luxair gab die Verbindung Saarbrücken - Berlin zum Jahresende auf, nun versucht sich eine dänische Airline auf der Strecke). Das ist ein Bundesland für 987 797 Menschen.

Mehr als eine Verwaltungseinheit

In diesem Jahr läuft der Länderfinanzausgleich aus, und immer wieder diskutierten Politikerinnen und Politiker darüber, ob man das Saarland nicht an Rheinland-Pfalz angliedern sollte. Würde Geld sparen. Würde die Verwaltung einfacher machen. Jürgen Höll schaut auf einen Spielzeug-Lkw, auf den er ein "Karlsberg Urpils"-Schild geklebt hat. Angliedern? Für ihn ist ein Bundesland mehr als eine Verwaltungseinheit. Und vielleicht geht es deshalb auch darum, wofür das Saarland 100 Jahre nach dem Versailler Vertrag steht.

Dem Helmholtz-Zentrum für Informationssicherheit (Cispa) in Saarbrücken sieht man an, dass es neu gebaut wurde. Heller Teppich, helles Licht, Büros mit Wänden aus Glas. Katharina Krombholz hat ihres in der Ecke im zweiten Stock, sie hat den Schreibtisch so verstellt, dass sie dahinter stehen kann. Fürs Gespräch setzt sie sich an den Konferenztisch. Als leitende Wissenschaftlerin forscht sie zu Usable Security and Privacy, und weil das nur die wenigsten verstehen, sagt sie gleich: "Ich mache Sicherheit einfacher." Etwa wenn das kleine grüne Schloss oben in der Browserleiste auftaucht und die Seite dann doch nicht sicher ist. Wie kann das sein?

Krombholz ist 32 Jahre alt und in Salzburg geboren, man hört das, wenn sie spricht. Die Computer ihrer Kindheit waren Kästen und brauchten mehrere Minuten, um hochzufahren. Daneben blinkte das Modem. Sie wurden schneller und kleiner, Laptop, Smartphone, Smartwatch. Katharina Krombholz hat erlebt, wie die Technik immer näher an den Menschen rückte - und fand das spannend. Es folgten: Studium und Promotion in Wien, Vorträge in Tokio, Lausanne, Ottawa, die Liste ihrer Publikationen ist drei Seiten lang. Im August 2018 fing sie dann in Saarbrücken an. Saarbrücken?

Sie wusste nichts über die Region, kannte niemanden. Sie kam, weil ihr Kolleginnen und Kollegen gesagt hatten, dass das Land gerade versucht, Forschungseinrichtungen und Unternehmen anzuwerben, die sich mit Datenschutz und Cybersicherheit beschäftigen. Allein das Cispa hat im vergangenen Jahr 16,2 Millionen Euro von Bund und Land bekommen.

Kohle und Stahl sind passé. Aber die Nähe zu Frankreich und Luxemburg - das hat was

Katharina Krombholz suchte also eine Wohnung und fand sie im Zentrum, mittlerweile ist auch ihr Mann hergezogen. Sie lernte zu schätzen, wie nah Luxemburg und Frankreich sind, man geht durch die Stadt, und jemand ruft "Ça va?". Das mache das Leben in einer kleinen Großstadt angenehmer. Mit der Zeit lernte sie auch die Geschichte ihrer neuen Heimat: Wie das Saargebiet 15 Jahre lang vom Völkerbund verwaltet wurde. Volksabstimmung, Anschluss ans Deutsche Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einige Jahre unter französischer Kontrolle, wieder Abstimmung, zu wem wollt ihr jetzt gehören? Ein ewiges Hin und Her. Im Januar 1957 wurde das Saarland dann Teil der Bundesrepublik.

Vor allem aber lernte sie, wie wichtig Kohle und Stahl in all den Jahren waren, und welche Probleme das Land hat, weil sie es heute nicht mehr sind. Erst im vergangenen Herbst schrieb Ministerpräsident Tobias Hans einen Brief an Kanzlerin Merkel. Die Stahl-Holding-Saar (SHS) hatte angekündigt, in den nächsten drei Jahren 1500 Stellen abzubauen und 1000 Stellen auszulagern. Zu ihr gehören unter anderem die Unternehmen Saarstahl (6000 Beschäftigte) und Dillinger Hütte (5000 Beschäftigte), die zu den größten Arbeitgebern im Land zählen.

In ihrem Büro steht Katharina Krombholz auf. Sie hat am Morgen unterrichtet und einen Doktoranden betreut, nun muss sie weiterarbeiten, eine Sache noch. "Mittlerweile fühle ich mich wie eine Neo-Saarländerin", sagt sie, und hat auch deshalb einen Wunsch. Dass das Land nicht mehr so sehr an Stahlwerken und Autowerken festhält, an rostiger Industrie, sondern stärker an die Zukunft denkt. Ein Land sucht seine Identität - das kann doch eine Chance sein.

Wenn man aus dem Cispa geht, gleich nebenan, liegt ein Grundstück brach. Ein paar Zäune, ansonsten Erde, der Regen schwemmt sie zu Matsch auf. Hier soll ein neues Gebäude entstehen, für einen Teil der 500 Männer und Frauen, die bis 2026 am Cispa arbeiten wollen. Das Cispa will wachsen.

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