Russlands Version der Historie:Geschichtsstunde mit dem heiligen Wladimir

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Nicht nur russischer Präsident sondern auch oberster Geschichtslehrer seines Landes: Wladimir Putin (Foto: dpa)
  • Bei der Argumentation seiner Linie im Ukraine-Konflikt zieht Russlands Präsident Putin die Geschichte heran - diese beugt er allerdings zu seinen Gunsten.
  • Zum Beispiel rechtfertigt er die Annexion der Krim mit der Taufe des heiligen Wladimir.

Von Thomas Urban

Zwei Lektionen in russischer Geschichtsschreibung

Geschichte als Waffe im Stellungskrieg - der Konflikt um Krim und Donbass liefert ein neues großes Kapitel dazu. Kremlchef Wladimir Putin hat nun gleich zwei Geschichtsstunden gegeben: Die Krim sei für die Russen so wichtig wie der Tempelberg für die Juden, der Hitler-Stalin-Pakt sei richtig gewesen, da die Sowjetunion "nicht kämpfen wollte".

Putins Patron: der Heilige Wladimir auf einem ukrainischen Geldschein. (Foto: SZ)

Die Annexion der Krim begründete Putin mit der Taufe seines Namenspatrons, des heiligen Wladimir, im Jahr 988. Der war allerdings nicht Fürst von Moskau, sondern von Kiew. Dort steht hoch über dem Dnjepr ein riesiges Wladimir-Denkmal, eine der drei Kiewer Kathedralen ist ihm geweiht, sein Konterfei prangt auf Geldscheinen - er ist ukrainischer Nationalheiliger.

Darüber hinaus widersprechen auch die nackten Zahlen der Geschichtsdeutung Putins: 1991 stimmten 54 Prozent der Bevölkerung auf der Krim für die Unabhängigkeit der Ukraine, somit auch ein Teil der dort lebenden Russen, die laut der letzten Volkszählung von 2001 immerhin 58 Prozent ausmachten. Die anderen waren überwiegend Ukrainer und Krimtataren.

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Bei den letzten freien Wahlen 2010 - das Referendum von 2014 unter russischer Kontrolle fällt nicht in diese Kategorie - erlitten die Befürworter eines Anschlusses an Russland eine herbe Niederlage, die Mehrheit der Wähler hatte längst den Autonomiestatus akzeptiert. Der sah vor, dass Kiew die Krim subventioniert, ihr weitgehend Finanz- und Kulturhoheit gewährt, sie aber vor den Begehrlichkeiten der Moskauer Oligarchen und Apparatschiks schützt. In Kiew staunt man, dass diese Zahlen in der deutschen Debatte nicht vorkommen.

Die Formel "russischsprachig = prorussisch" ist falsch

Auch für das Donbass hat sich die Formel "russischsprachig = prorussisch" als falsch erwiesen. Fast drei Viertel gaben zuletzt Russisch als Muttersprache an, aber nur 38 Prozent bezeichneten sich bei der Volkszählung 2001 als Russen, 57 Prozent hingegen als Ukrainer. Diese Zahlen erklären, warum der Separatistenführer Igor Girkin, ein früherer Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU, in einem Aufruf beklagte, "dass die Einheimischen nicht für ihre Freiheit kämpfen wollen".

Auch über die ebenfalls "nicht kämpfen wollende" Rote Armee weiß man in der Ukraine und vor allem in Polen anderes als Wladimir Putin: Nur 17 Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 fiel die Rote Armee von Osten in das Land ein, auf der Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt. Bei den Kämpfen um das damalige Ostpolen fielen mehrere Tausend Soldaten.

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In den folgenden Monaten wurden eine halbe Million Polen und Ukrainer aus den unverzüglich von Moskau annektierten Gebieten, die heute die Westregionen Weißrusslands und der Ukraine ausmachen, in den Gulag deportiert, besonders die ukrainisch-katholische unierte Kirche wurde blutig verfolgt. Zehntausende Angehörige der Führungsschicht wurden erschossen, darunter rund 22 000 Offiziere und Intellektuelle bei Katyn und weiteren Orten.

Kein einziges Strafverfahren wegen des Stalin-Terrors

Immerhin hat Putin bei seinem Treffen mit dem polnischen Premierminister Donald Tusk an den Gräbern von Katyn 2010 die Täterschaft der sowjetischen Geheimpolizei bestätigt, aber gleichzeitig eine russisch-polnische Opfergemeinschaft konstruiert: In dem Wald seien viel mehr russische als polnische Opfer verscharrt. In Polen wurde dies als Versuch aufgefasst, die Verantwortung Russlands als Rechtsnachfolger der Sowjetunion von sich zu weisen. In der Tat gab es in Moskau kein einziges Strafverfahren wegen des Stalin-Terrors, nicht einmal irgendeine Entschädigung für die Opfer, auch nicht die russischen.

Dass Putin die düsteren Seiten der Sowjetgeschichte von sich weist, dafür aber umso mehr den Sieg über Hitler-Deutschland allein für Russland reklamiert, wird ihm besonders in der Ukraine übelgenommen. Der Anteil der Ukrainer unter den gefallenen Rotarmisten war, umgerechnet auf die Bevölkerungszahl, etwa dreimal so hoch wie der der Russen.

Doch in der Debatte taucht als ukrainischer Kriegsbeitrag nur der Nationalistenführer Stepan Bandera auf, dessen Gefolgsleute an den Judenverfolgungen unter deutscher Regie beteiligt waren. Bandera selbst aber saß im Krieg im KZ Sachsenhausen. Viele junge Ukrainer verehren ihn heute, nicht weil er zunächst auf Hitler gesetzt hat, sondern weil er Opfer sowohl Hitlers als auch des Kremls war - er wurde 1959 vom KGB ermordet, mitten in München.

Bücher über all diese russisch-ukrainischen Streitfragen haben auch Moskauer Verlage zuhauf herausgebracht. Doch Titel, die annähernd wissenschaftlichen Kriterien entsprechen, sind selten geworden, in den Fernseh- und Schulprogrammen ist erst recht kein Platz für die Geschichtsbilder der Nachbarn. So steht denn für die meisten Russen fest, dass Fürst Wladimir der erste getaufte Landsmann war.

© SZ vom 08.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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