Russlands Jugendarmee:Kindheit unter Waffen

Russlands Jugendarmee: Kadetten der Junarmija bei Proben für die Zeremonie am "Tag des Sieges". Der Feiertag wird in Russland jedes Jahr am 9. Mai begangen.

Kadetten der Junarmija bei Proben für die Zeremonie am "Tag des Sieges". Der Feiertag wird in Russland jedes Jahr am 9. Mai begangen.

(Foto: AFP)
  • Russland unterhält eine sogenannte Jugendarmee.
  • Diese Kinder- und Jugend-Militär-Organisation soll bis kommendes Jahr von derzeit 355 000 auf eine Million Mitglieder aufgestockt werden.
  • Die Menschenrechtsorganisation "Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands" steht dem Vorhaben skeptisch gegenüber.
  • Kritik entzündet sich auch daran, dass der Jugendarmee Waisenkinder gezielt zugeführt werden sollen.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Kein anderer Kriegsgegner Hitler-Deutschlands trug eine auch nur annähernd so große Kriegslast wie die Sowjetunion. Der 9. Mai, der "Tag des Sieges", ist für viele Russen deshalb der wichtigste Feiertag des Landes. 2020 jährt er sich zum 75. Mal und soll deshalb besonders ehrwürdig begangen werden - inklusive der obligatorischen Bezeugung militärischer Stärke.

Das Gefühl der Sicherheit, das so vermittelt wird, begrüßen die allermeisten Russen. Doch nun meldete eine russische Tageszeitung, dass Politiker und Armeeangehörige des militärisch-industriellen Komplexes das Jubiläum auch dafür nutzen wollen, die Verteidigungsfähigkeit des Landes mit einer umstrittenen Maßnahme zu verbessern: Wie Kommersant schreibt, liege der Zeitung ein Schreiben des russischen Verteidigungsministeriums vor, in dem Mitte Februar alle Rüstungsunternehmen des Landes aufgefordert wurden, spezielle Abteilungen für die sogenannte Junarmija einzurichten.

Die Junarmija (deutsch: Jugendarmee) ist eine Kinder- und Jugend-Militärorganisation Russlands, die auf Initiative von Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Jahr 2016 gegründet wurde. Zweck dieser Massenorganisation sollte aus Sicht Schoigus sein, die mehr als 5000 militärisch-patriotischen Jugendbewegungen zu bündeln, die seit den 1990er Jahren als Nachfolgegruppierungen der einstmals sowjetischen Jugend-Militär-Organisation DOSAAF (vergleichbar mit der Gesellschaft für Sport und Technik, GST, in der DDR) entstanden waren.

Bei der Gründungszeremonie der Junarmija im Patriot-Park, einer Art Militär-Disneyland in Kubinka bei Moskau, betonte Schoigu im Mai 2016, es sei nicht das Ziel der neuen Bewegung, der Armee neue Kader zuzuführen, sondern aus Heranwachsenden gesunde und patriotisch gesinnte Bürger Russlands zu machen.

"Mit allem schießen, was schießt, mit Ausnahme von Raketen"

Tatsächlich werden den Kindern Kenntnisse über die Geschichte und Geografie Russlands vermittelt, sie pflegen Kriegerdenkmäler, bewachen Gedenkplätze mit der "Ewigen Flamme" und nehmen an Kultur- und Sportveranstaltungen teil. Doch dass das Ausbildungsprogramm der Jugendarmee auch der "militärischen Früherziehung" dient, ist kaum zu bestreiten: So werden die Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen acht und 18 Jahren mit Kriegswerkzeug der russischen Armee vertraut gemacht und "bekommen auch die Gelegenheit, mit allem zu schießen, was schießt, mit Ausnahme von Raketen", wie Schoigu es ausdrückte.

Beim Nachwuchs kommt die Aussicht, echte Schusswaffen bedienen zu dürfen, auch sehr gut an: Der ehemalige Bobfahrer und Olympionike Dmitrij Trunenkow, der als erste Galionsfigur für die Junarmija gewonnen werden konnte und von 2016 bis 2018 ihr Vorsitzender war, beobachtete bei einer Junarmija-Veranstaltung im Pionierlager Artek auf der Krim, wie die Jugendlichen in Erster Hilfe ausgebildet wurden. "Doch ihr weitaus größeres Interesse galt einer praktischen Übung zum Zusammenbau von Gewehren und der Gelegenheit, mit ihnen zu schießen", sagte er der unabhängigen Zeitung Nowaja Gaseta.

Enthusiasmus dieser Art soll nun im Überschwang der 75-Jahr-Feiern zum Kriegsende offensichtlich deutlich forciert werden. Gibt die Junarmija ihre Mitgliederzahl auf ihrer Website derzeit mit knapp 355 000 an, so kündigte der für die militärisch-politische Zusammenarbeit zuständige General Alexej Zygankow im Februar laut Kommersant an, dass diese Zahl schon zum diesjährigen Tag des Sieges am 9. Mai auf 500 000 Mitglieder gesteigert werden solle.

Trainingscamps zu jeder Jahreszeit

Um diese deutliche Erhöhung in so kurzer Zeit zu erreichen, kündigte das Verteidigungsministerium an, an jeder russischen Schule eine Junarmija-Einheit zu installieren, Standorte der Jugendarmee über das ganze Land flächendeckend einzurichten und Trainingcamps zu jeder Jahreszeit abzuhalten.

Wenn das Verteidigungsministerium in die Kindererziehung eingreift

Doch die Junarmija will noch mehr: Bis zum 9. Mai 2020 strebt die Organisation die Stärke von einer Million Mitglieder an. Die ambitionierte Prognose stammt laut Kommersant von Jelena Slesarenko, Hochsprung-Olympiasiegerin von 2004 und stellvertretende Leiterin des Junarmija-Hauptquartiers in Moskau. Das Kalkül: Wenn auch noch die Angestellten der Rüstungsunternehmen ihre Kinder direkt am Arbeitsplatz für die Jugendarmee anmelden können, werde die Bewegung erheblichen Zulauf erhalten.

Valentina Melnikova

Setzt sich seit vielen Jahren gegen die Wehrpflicht in Russland ein: Die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation "Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands", Walentina Melnikowa, in ihrem Büro in Moskau.

(Foto: AP)

Doch die hochfliegenden Pläne stoßen auf Widerstand. Für Walentina Melnikowa, der Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation "Union der Komitees der Soldatenmütter Russlands", ist das Vorhaben ohne geeignete Mitarbeiter kaum umzusetzen: "Wie soll das denn funktionieren, wenn das Verteidigungsministerium den Unternehmen Anweisungen erteilt, ohne sie dabei personell zu unterstützen? Sollen die Firmen etwa auf eigene Kosten Lehrer einstellen? Warum sollten sie das tun, sie gehören dem Ministerium ja nicht?", fragt sie im Kommersant. Es sei außerdem höchst fragwürdig, wenn das Minoborony, wie das Verteidigungsministerium im Volksmund genannt wird, in die Strukturen der Kindererziehung eingreife.

Diese Einmischung können sich Eltern in Russland genauso verbitten, wie in anderen Ländern auch: Wie sie ihre Sprösslinge aufziehen, ist schließlich auch dort noch ihnen überlassen. Wenn die Erziehungsberechtigten also nicht wollen, dass ihre Töchter und Söhne schon von frühester Jugend an in der Junarmija militärisch gedrillt und an Waffen ausgebildet werden, können sie sich dem widersetzen, auch dann, wenn sie in der Rüstungsindustrie arbeiten.

Kritik entzündete sich daher auch an den Plänen von Russlands Ombudsfrau für die Rechte der Kinder, Anna Kusnezowa, die offenbar darauf abzielten, der Jugendarmee gezielt Waisenkinder zuzuführen, wie die Nowaja Gaseta in einem Kommentar bemängelt. Denn die könnten sich auf keinen verantwortungsvollen Vormund verlassen. Sie hatte die Ombudsleute für Kinderrechte in den Regionen angewiesen, in allen Waisenhäusern ein Mentorenprogramm für die Junarmija zu starten. Ziel des Programmes sei es, geeignete Waisenkinder für die Jugendarmee zu identifizieren.

Kusnezowa begründet ihre Pläne vordergründig mit bestehenden Missständen: Von den 50 000 Vollwaisen, die es in den 1600 Waisenhäusern des Landes gäbe, fänden nur zehn Prozent in ein geordnetes Leben. Von den übrigen 90 Prozent begingen zehn Prozent Suizid, 40 Prozent würden kriminell und die restlichen 40 Prozent entweder alkohol- oder drogenabhängig.

Geht es in erster Linie um Staatspropaganda?

Die Nowaja Gaseta zieht allerdings in Zweifel, ob ausgerechnet die Junarmija die richtige Einrichtung sei, um dieses Problem zu lösen: "Seriöse Studien auf der ganzen Welt zeigen uns, dass Waisenkindern am besten durch individuelle und professionelle Betreuung geholfen wird", schreibt das Blatt. "Soll ausgerechnet die Militarisierung unser Waisenhaus-System korrigieren, das diesen Albtraum reproduziert?"

Der Verdacht, dass die Jugendarmee eher der Militarisierung und der Indoktrination junger Leute dienen soll, als den Zielen, wie sie Schoigu und Kusnezowa vorgeben, wird in Russland immer wieder geäußert. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 kam es zu einer Welle nationaler Begeisterung, die Zahl militärisch-patriotischer Verbände stieg innerhalb kurzer Zeit deutlich an und die Zustimmungswerte für Präsident Putin schossen in die Höhe. Sein Narrativ, dass Russland von Feinden umzingelt ist und die Nation daher unter seiner Führung geschlossen zusammenrücken muss, verfängt beim Wahlvolk noch immer.

Der Verdacht, dass es bei der Juniarmija also in erster Linie um Staatspropaganda gehen könnte, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen. Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, Menschen mit potenziell labiler Persönlichkeitsstruktur wie Waisenkinder zu indoktrinieren, soll das in erster Linie dem Machterhalt dienen, argwöhnt die Nowaja Gaseta.

Auch wenn das nicht zu beweisen ist, so gilt doch, was die Menschenrechtlerin Walentina Melnikowa konstatiert: "Der Versuch, Kinder zu militarisieren, stellt eine Verletzung ihrer Rechte dar."

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