Süddeutsche Zeitung

Russlandbeauftragter Gernot Erler:"Eine neue Eskalation ohne Ende"

Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, im Gespräch über Putin, den Giftanschlag von Salisbury und seinen Parteifreund Gerhard Schröder.

Interview von Lars Langenau

Der Freiburger SPD-Politiker Gernot Erler, 73, war 30 Jahre Bundestagsabgeordneter, von 2003 bis 2006 der erste Russlandkoordinator der Bundesregierung unter Außenminister Joschka Fischer, von 2005 bis 2009 Staatsminister im Außenministerium und ist seit 2014 wieder Russlandbeauftragter. Sein offizieller Titel lautet: Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.

SZ: Herr Erler, mehr als 76 Prozent der russischen Wähler haben für Wladimir Putin gestimmt. Waren das freie Wahlen?

Gernot Erler: Wir haben Berichte von mehr als 2900 Unregelmäßigkeiten, die allein von der Wahlbeobachtungsstelle Golos gezählt wurden. Auch gibt es TV-Bilder, wie stapelweise vorab ausgefüllte Stimmzettel in die Wahlurnen getan wurden. Es gab also sicherlich viele Unregelmäßigkeiten, die aber angesichts der Millionen Stimmen für Putin nichts an dem Ergebnis ändern werden.

64 Prozent Wahlbeteiligung. Ist das hoch?

Putin hatte die Parole 70 zu 70 ausgegeben, also 70 Zustimmung für ihn bei 70 Prozent Wahlbeteiligung. Es ist bemerkenswert, dass der Plan bei seinen Stimmen übererfüllt, aber bei der Beteiligung untererfüllt blieb. Schließlich wurden noch nie die sogenannten "administrativen Ressourcen des Staates" zur Unterstützung Putins so massiv eingesetzt, um die Wähler zu Urnen zu bringen. Doch das hat offensichtlich nur zum Teil funktioniert.

Der Aufruf des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny zum Wahlboykott scheint jedoch nicht gefruchtet zu haben.

Die liberale Opposition war in dieser Frage gespalten: Sie hat selbst zwei andere Kandidaten aufgestellt, die wiederum zur Wahl aufgerufen haben. Das hat das Lager der Opposition sicherlich nicht gestärkt.

Hat Sie am Ausgang der Wahl irgendwas überrascht?

Der Spitzenkandidat der Kommunisten, Pawel Grudinin, war zunächst als Gegenkandidat erwünscht. Als er dann aber in den Umfragen aufholte, wurde er durch eine Verleumdungskampagne gestutzt. Überrascht hat mich das schwache Abschneiden von Ksenia Sobtschak mit nur wenig mehr als einem Prozent. Da hatte ich mit etwas mehr gerechnet. Aber das sind nur Nuancen - mit einem Sieg Putins in dieser Höhe hatte ich gerechnet.

Putin wird also bis 2024 regieren. Was erwartet uns?

Putin hat mit seinem Anspruch, Ordnungsmacht in einer multipolaren Welt zu sein, erfolgreich den Wahlkampf bestanden. Wieso sollte er seine Erfolgslinie verlassen? Es könnte nur zur einem Kurswechsel kommen, wenn er für eine gute Hinterlassenschaft seiner Regentschaft sorgen und einen gefahrlosen Übergang organisieren möchte. Daran wird man ihn auch messen. Aber bislang gibt es keine Anzeichen eines Nachdenkens in dieser Richtung.

Wird dann wieder Ministerpräsident Dmitri Medwedew Präsident und dann abermals Putin?

Medwedews Zeit scheint mir abgelaufen zu sein. Außerdem ist Putin in sechs Jahren 71 Jahre alt. Er müsste dann noch einmal eine sechsjährige Wartezeit einplanen, bevor er wieder Präsident werden könnte. Allerdings könnte er natürlich nach chinesischem Vorbild eine Verfassungsänderung anstreben. Ich halte das aber für sehr spekulativ. Ich spüre in meinen Gesprächen, dass das Jahr 2024 eine Zeitenwende bringen könnte, wie sie die Opposition schon jetzt herbeisehnt. Aber warten wir ab.

Ukraines Außenminister Pawlo Klimkin sieht Gerhard Schröder als weltweit wichtigsten Lobbyisten für Putin und denkt über Sanktionen gegen den Altkanzler nach. Wie beurteilen Sie die Rolle Ihres Genossen im Aufsichtsrat von Rosneft?

Ich habe noch nicht festgestellt, dass Gerhard Schröder die Rolle eines Chef-Lobbyisten ausübt. Er selbst sagt, das sei seine Privatsache und es sei richtig, was er da macht. Das wird man so zur Kenntnis nehmen müssen.

Können Sie die harsche Kritik nachvollziehen, die auch in Deutschland geäußert wird?

Ich kann sie angesichts der großen Baustellen im westlich-russischen Verhältnis nicht einordnen. Ich kann auch nicht erkennen, wo das Jagdgeschrei gegen Schröder irgendeinen Fortschritt auf einer dieser Baustellen bringen würde.

Spüren Sie eigentlich bei Ihrer Arbeit, dass Ost- und Westdeutschland in Russlandfragen gespalten sind?

Das ist aufgrund der Historie und der kulturgeschichtlichen Erfahrung nicht verwunderlich. So gab es in der DDR die deutsch-sowjetische Gesellschaft, der Millionen DDR-Bürger angehört haben. Man hat im Osten Deutschlands eher Verständnis für Russland aufgrund der besseren Kenntnisse der Kultur, Sprache und Geschichte Russlands.

Der Westen scheint sich ziemlich klar darüber zu sein, dass Moskau hinter dem Giftanschlag von Salisbury steckt. Wie sehen Sie das?

Ich würde da differenzieren: Zwar habe ich Verständnis für die harte Reaktion aus London, wenn eigene Bürger gefährdet werden. Auch dass die USA und die Europäische Union Solidarität zeigen, verstehe ich. Aber das heißt nicht, dass man sich alle Interpretationen zu den Hintergründen dieser Tat zu eigen machen muss. Insofern ist die gemeinsame Erklärung von Großbritannien, den USA, Frankreich und Deutschland interessant, in der es heißt: "Wir teilen die britische Einschätzung, dass es keine andere plausible Erklärung dafür gibt". Das ist eine vergleichbar vorsichtige Einschätzung.

Hinzu kommt Russlands Rolle in Syrien, die Okkupation der Krim, der Krieg in der Ostukraine, Manipulationen der US-Wahl, Hackerangriffe auf westliche Staaten. Gibt es einen neuen Kalten Krieg?

Wir haben es mit einem Land zu tun, das sich nach wie vor von der westlichen Welt bedrängt fühlt. Eins, das im Augenblick keine Grenzüberschreitung scheut, hoch risikobereit in Auseinandersetzungen geht und keinen Konflikt vermeidet. Ich führe das auf einen jahrelangen Entfremdungsprozess zwischen Russland und dem Westen zurück, bei dem es inzwischen zu einer völlig unterschiedlichen Interpretation der jüngsten Ereignisse gekommen ist. Russland sieht sich nur noch negativ beurteilt. Die Entfremdung fand ihren Höhepunkt im Ukrainekonflikt. Die Russen fürchten, dass die Ukraine völlig unter westlichen Einfluss geraten würde, während die EU mit dem Assoziierungsabkommen eigentlich der Ukraine einen Ersatz für die verwehrte EU-Beitrittsperspektive bieten wollte. Vor diesem Hintergrund der Entfremdung sehe ich auch die wachsende russische Bereitschaft, rote Linien zu überschreiten.

Ist die Nato-Osterweiterung denn noch ein großes Thema in Russland?

Die Angst davor ist nach wie vor virulent für die russische Außenpolitik. Aus russischer Sicht hat die Ukraine keine Chance auf eine Aufnahme in die Nato, solange es in der Ostukraine keinen echten Frieden gibt. Also kann Russland in dieser Logik nicht an einem Frieden gelegen sein. Kürzlich erklärte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg allerdings, dass die Ukraine einen Anwärterstatus habe. Solche Signale können in Moskau den Eindruck verstärken, dass man den Konflikt aufrecht erhalten muss.

Sehen Sie neue Sanktionen kritisch?

Die USA haben vor wenigen Tagen neue erlassen, aber ich glaube nicht, dass ansonsten im Westen neue Sanktionen erwünscht wären. Letztendlich führt das auch zu einer neuen Eskalation ohne Ende, was man gerade an der gegenseitigen Ausweisung der britischen und russischen Diplomaten sehen kann. Mit der zusätzlichen Schließung des British Council und des Generalkonsulats in Sankt Petersburg haben die Russen allerdings noch härter reagiert.

Wem also nützt die Eskalation?

Man kann nach den Wahlen zumindest feststellen, dass sie Putin nicht schadet. Er festigt damit seinen Ruf als harter Hund, der unnachgiebig zurückschlägt. Vielmehr müsste man sich langsam überlegen, wie der Eskalationsprozess auch wieder angehalten werden kann.

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