Krise und Korruption:Zorn an der Peripherie Russlands

Picket of miners employed by Kingcoal Group in Rostov Region

Auch die von der Bergbaugesellschaft versprochene Kohleration sei ausgeblieben, klagen die Bergleute von Gukowo. Bekommen haben sie nur Schrott, mit dem man im kalten Winter nicht heizen kann.

(Foto: picture alliance / dpa)

In Russland mehren sich die Proteste, oft richten sie sich gegen korrupte Provinz-Eliten. So wie im Fall der Bergarbeiter von Gukowo. Doch sie sind uneins: Ist Putin nicht im Bilde oder ist er Teil des Problems?

Von Julian Hans, Gukowo

Der Präsident soll sie hören. Wladimir Putin muss endlich erfahren, was hier los ist, am westlichen Rand seines Reiches, wo hinter den Feldern schon die Ukraine beginnt. Wie man sie betrogen und ihrem Schicksal überlassen hat. Lange haben sich die Bergleute von Gukowo vertrösten lassen, seit dem Wochenende sind 60 von ihnen in den Hungerstreik getreten, vielleicht dringen sie damit ja bis nach Moskau durch. Jetzt, kurz vor den Wahlen, sollten die Chancen dafür gut stehen.

Im dritten Jahr der Wirtschaftskrise mehren sich die Proteste in Russland. Meistens sind sie lokal begrenzt, es geht um konkrete Missstände: Eine Fischfabrik im Osten, die ihren Arbeitern keine Löhne zahlt. Oder Fernfahrer, die sich gegen eine Maut wehren. Auf der Baustelle des Weltraumbahnhofs Wostotschnyj streiken Arbeiter, weil die Firmen mit der Zahlung im Rückstand sind. Der Adressat ist Putin - selten als Angeklagter, eher als letzte Hoffnung.

Meistens gelingt es Gouverneuren und Polizei, den Protest zu ersticken, bevor er landesweit Aufmerksamkeit bekommt. So wie Anfang der Woche, als sich zwei Dutzend Bauern mit ihren Traktoren aus Südrussland nach Moskau aufgemacht hatten.

Sie wollten gegen große Agrarfirmen protestieren, die ihnen das Land wegnehmen und dabei von Behörden und Gerichten gedeckt werden. Alle paar Kilometer stoppte die Polizei den Konvoi, dann verprügelten Polizisten einen Aktivisten, weitere wurden festgenommen. Inzwischen sind die Traktoren mit Polizeibegleitung auf dem Rückweg.

In Gukowo sind es nun die Bergarbeiter. 200 von ihnen haben sich in der Mittagssonne vor der Zentrale der Minengesellschaft versammelt. "King Coal" steht in kyrillischen Lettern an dem grauen Gebäude; unter diesem Titel veröffentlichte Upton Sinclair im Revolutionsjahr 1917 einen Roman über die Ausbeutung der Minen-Arbeiter in den USA. Jetzt, hundert Jahre später, heißt so eine Bergbaugesellschaft im kapitalistischen Russland.

Männer mit zerfurchten Gesichtern halten Plakate in ihren schwieligen Händen: "Den Bergleuten von Gukowo wurden 300 Millionen Rubel Lohn gestohlen!" steht darauf, und: "Wir sind keine Sklaven, gebt uns unser Geld!"

Das Geld ist weg - der Hauptverdächtige auch

Der Direktor von King Coal ist untergetaucht. Laut der Staatsanwaltschaft hat er Milliarden unterschlagen - erst das Firmenvermögen, dann auch noch die Hilfszahlungen des Staates. Zehn Prozent der Aktien gehörten ihm, 90 Prozent einer Offshore-Firma. Niemand weiß, wer dahinter steckt, aber weil der Gouverneur so lange zuschaute und auch noch Geld hinterherwarf, glauben manche in Gukowo, dass in der Gebietsregierung jemand an dem Betrug mitverdient hat.

Beweisen kann das keiner. Sicher ist nur: Das Geld ist weg, der Hauptverdächtige ist weg - und der Staatsanwalt sagt, die Kumpel sollen sich gedulden, bis das Konkursverfahren abgeschlossen ist. Wann das sein wird und ob dann überhaupt noch etwas da ist zum Verteilen, ist ungewiss.

"Die Schächte sind alle mit Wasser vollgelaufen", sagt Dmitrij Kowalenko, einer der Sprecher der Bergleute. Ausrüstung im Wert von Milliarden Rubeln sei verloren. "Man hätte für ein paar Millionen Rubel neue Pumpen kaufen müssen, um die Minen zu retten". Aber jetzt sei es zu spät, es wäre billiger, neue Schächte zu graben, als die alten trockenzulegen.

Briefe an Putin blieben ohne Antwort

Vierzig Jahre hat Dmitrij Kowalenko in Gukowo Kohle abgebaut. Sein Schnauzbart ist silbern, sein Bauch ist rund. Er hat sich in den Schatten eines Baumes gestellt - der Blutdruck. 59 ist er jetzt, ein Jahr hätte er noch bis zum Rentenalter in Russland. Aber was dann wird, weiß er auch nicht: "King Coal hat drei Jahre lang keine Sozialabgaben gezahlt und die Behörden sollen nichts gemerkt haben?".

Auf seinem Mobiltelefon hat Kowalenko noch eine SMS gespeichert, als Erinnerung. Sie kam von der Bank am 29. September 2015; "das war das letzte Mal, dass uns Lohn ausgezahlt wurde. Und das waren auch nur Schulden vom Mai!". Mit ihm warten einige Hundert Menschen darauf, dass ihn Rückstände von umgerechnet vier Millionen Euro ausbezahlt werden.

Als King Coal die Gesellschaft aufkaufte, arbeiteten noch viertausend Menschen in vier Minen. Jetzt leben die Bergarbeiter von Gukowo von dem, was die Alten als Rente kriegen oder von dem, was die Jungen schicken, die zum Arbeiten nach Moskau gegangen sind. Die Region stirbt aus, während wenige Kilometer von hier, hinter der ukrainischen Grenze, die selbsterklärten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk mit Milliardensubventionen aus Moskau am Leben gehalten werden.

Nicht einmal ihre Kohlerationen haben die Arbeiter bekommen. Eigentlich stehen jedem acht Tonnen zu, damit sie im Winter ihre Häuser heizen können. Der Gouverneur des Gebiets Rostow hatte versprochen, Abhilfe zu schaffen. Aber was haben sie bekommen? Ein glatzköpfiger Mann holt einen Sack, stellt ihn vor seine Mitstreiter und holt mit beiden Händen schwarze Brocken heraus. Was für Laien aussieht wie normale Kohle, erkennt einer, der sein Leben lang Kohle abgebaut hat, gleich als Schrott. "Damit kann man nicht heizen", ruft einer. "Das ist 70 Prozent Abfall!"

Immer wieder habe er an Putin geschrieben, sagt Kowalenko, aber es kam keine Antwort. Bei der jährlichen Bürgersprechstunde, bei der Putin live im Fernsehen Fragen beantwortet, sei kein Durchkommen. "Da kommen dann kleine Mädchen dran, die Fragen, was der Hund des Präsidenten zum Frühstück frisst", schimpft er.

Ist Putin nicht im Bilde oder ist er selbst Teil des Problems?

Weiß Wladimir Putin nichts von den Problemen im Land, oder ist er sehr wohl im Bilde und selbst Teil des Problems? Die Bergarbeiter in Gukowo sind sich uneins: "Seine Umgebung ist schuld, die lassen nichts zu ihm durch", sagt ein Mann mit Pepita Hut, "wenn er das erfährt, wird er Ordnung schaffen". Eine Frau schüttelt ihre rot getönte Dauerwelle: "Der weiß, was los ist, es sind doch seine Leute, die sich auf unsere Kosten bereichern."

Am 18. September sind Parlamentswahlen. "Meine Stimme kriegen die Kommunisten", sagt eine ältere Frau entschlossen. In der Sowjetunion blühte das Revier, die Kohle wurde in die ganze Welt exportiert. "Seitdem leben wir von der Substanz, alles zerfällt." Eine andere widerspricht: "Das bringt nichts. Ich streiche meinen Stimmzettel durch, damit er wenigstens nicht für Einiges Russland gezählt wird."

Die Demonstranten haben eine Resolution an Putin verfasst: Er soll die Löhne aus dem nationalen Reservefonds bezahlen. In Zeiten hoher Ölpreise hat die Regierung Rücklagen gebildet; seit Russland in der Krise ist, wollen alle Hilfe aus dem Topf, die Krim steht dabei ganz vorn. Von 87 Milliarden Dollar Anfang 2014 haben sich die Einlagen auf 38 Milliarden mehr als halbiert.

Vier- oder fünfmal stimmen die Bergleute von Gukowo für ihre Resolution. Das Ergebnis ist jedes Mal einstimmig, aber es geht darum, dass die Kameras Bilder bekommen. Sie rufen dabei: "Wir fordern die sofortige Zahlung unserer Löhne", damit das Staatsfernsehen nicht behaupten kann, sie hätten für etwas ganz anderes gestimmt. Wie das läuft, haben inzwischen auch Arbeiter in der Provinz verstanden. Aber es filmen nur der Lokalsender, ein Aktivist für einen oppositionellen Video-Blog und ein schweigsamer Mann ganz in Schwarz, der erklärt, seine Aufnahmen seien für "die Behörden".

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