Weißrussland galt lange als politisch abhängiges Anhängsel Russlands. Seit dem Ukraine-Konflikt aber sieht sich Minsk zunehmend in einer Vermittlerrolle. Es betont seine Souveränität, das Verhältnis zum Westen entspannt sich allmählich, die meisten EU-Sanktionen sind aufgehoben, an diesem Dienstag besucht Präsident Alexander Lukaschenko Österreich. Gleichzeitig drängt Moskau den Nachbarn zu mehr Integration. Weißrusslands Außenminister Wladimir Makei schildert im Interview, warum seine Landsleute so vorsichtig sind, an der Todesstrafe festhalten und den Partner China besonders interessant finden.
SZ: Im Osten Russland, im Westen die EU; was ist schön, was schwer an dieser Lage?
Wladimir Makei: Wir sind in einer heiklen, sehr sensiblen Situation. Gut ist, dass wir in alle Richtungen Handel treiben können. Gleichzeitig befinden wir uns an der Bruchlinie zwischen zwei riesigen geopolitischen Akteuren. Und die Konfrontation, in der sich beide befinden, beeinflusst uns und unsere Nachbarn. Das gilt zuallererst für die Sanktionen und Gegensanktionen zwischen Russland und den Ländern des Westens, unter denen wir als offenes, exportorientiertes Land sehr leiden.
Wie reagieren Sie darauf?
Wir wollen eine ausbalancierte Beziehung zu allen.
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Gilt das auch für Russland?
Wir betrachten Russland als unseren größten Verbündeten, als unseren natürlichen Nachbarn ...
... und großen Bruder?
Warum nicht? Wenn wir über die Vergangenheit sprechen, ich meine die frühere Sowjetunion, kann man schon sagen, dass wir slawischen Völker Brudervölker sind.
Und wie sind die Beziehungen?
Sehr gut. Und wir wollen sie auch für die Zukunft stärken. Aber das heißt nicht, dass wir nur auf Russland schauen müssen.
Warum?
Wir haben zuletzt bei der großen Weltfinanzkrise erlebt, dass die Abhängigkeit von einem Land für unsere Wirtschaft schädlich ist. Deshalb möchten wir unsere Beziehungen diversifizieren und betrachten die Europäische Union als unseren zweitwichtigsten Wirtschaftspartner. Wir möchten gute Beziehungen zur EU, aber auch zu den anderen Staaten in der Welt.
Sie erwähnten die Ukraine: Was lernen Sie aus der Geschichte Ihres Nachbarn, der in einer ähnlichen Situation war - und heute ein kriegszerrissenes Land ist.
Die Ukraine ist unser zweitgrößter Wirtschaftspartner. Wir haben sehr gute Beziehungen. Wir verstehen - sagen wir: die Logik - der ukrainischen Führung. Aber ich muss ehrlich sagen, dass die Ukraine heute für uns ein negatives Beispiel ist. Daran ist aus meiner Sicht aber auch die EU schuld, die in der Vergangenheit versucht hat, die Ukraine so schnell wie möglich an die EU zu binden. Ich verstehe das Bestreben der Ukraine, enger bei Europa zu sein. Wir wollen dieser Logik aber nicht folgen.
Was heißt das?
Gleiche Beziehungen in alle Richtungen, vielleicht ein bisschen mehr zu Russland. Wir wollen die Fehler der Ukraine nicht wiederholen. Und wollen alle Gefahren berücksichtigen bei unserem Bemühen, mit der EU stärker zu kooperieren. Die Vorsicht liegt in der Mentalität der Belarussen. Wir wollen ein Land sein, das zur Stabilität beiträgt, nicht zu Turbulenzen.
Die Stadt Minsk steht auch für die Friedensbemühungen um die Ostukraine. Würden Sie den Prozess als Erfolg beschreiben - oder eher als Misserfolg, weil der Konflikt nicht gelöst ist ?
Ich würde eindeutig von einem Erfolg sprechen. Im Februar 2015 wurden ganz konkrete Beschlüsse gefasst: Waffenstillstand, Gefangenenaustausch, zeitweilige Beruhigung der Kämpfe. Gleichzeitig sind nicht alle Lücken geschlossen worden. Und jetzt sagt jede Seite etwas anderes, wenn es darum geht zu erklären, was heute los ist. Trotzdem hoffe ich, dass es bald die Möglichkeit für ein neues Gipfeltreffen im Normandie-Format gibt.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Ein Gespräch unseres Präsidenten mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij. Wir haben den Eindruck, dass Selenskij aufrichtig bestrebt ist, diesen Konflikt in der Ostukraine zu lösen. Deshalb braucht er jetzt viel Unterstützung.
Was könnte Deutschland dabei tun?
Die Bundeskanzlerin war von Anfang an die Lokomotive in diesem Prozess. Und sie könnte es auch jetzt wieder werden.
Ihr Land hat sich auf Visa-Erleichterungen mit der EU verständigt. Warum ?
Alles, was uns näher an die EU bringt, ist wichtig. Visa-Erleichterungen und Rücknahmeabkommen sind für uns ganz besonders wichtig. Das Interesse der Belarussen ist riesig, sich mit Europa vertraut zu machen. Und es ist für unsereins ein riesiger Unterschied, ob ein Visum heute 80 oder künftig 35 Euro kostet. Und der wachsende Austausch wird für die Entwicklung unserer Zivilgesellschaft sehr wichtig sein. Wenn Studenten, Wissenschaftler, Unternehmer immer mehr Kontakte pflegen.
Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Union der Werte. Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat sind wichtige Elemente. Bedeutet Ihr Bemühen sich anzunähern, dass Sie sich öffnen werden?
Wir haben nie gesagt, dass für uns Menschenrechte nicht wichtig sind oder wir nicht bereit wären, daran zu arbeiten. Das Problem besteht darin, dass wir etwas andere Vorstellungen von Menschenrechten haben. Die EU denkt eher an die individuellen Rechte, wir immer schon an die sozialen Rechte wie das Recht auf Arbeit, auf eine Wohnung, auf Schulen und eine soziale Versorgung. Wir haben die alte sowjetische Denkweise, dass das am wichtigsten ist.
Die Todesstrafe hat mit den sozialen Menschenrechten nicht viel zu tun. Warum verabschieden Sie sich nicht davon?
Wir sind ein sehr junger, unabhängiger Staat, gerade mal 30 Jahre alt. Und vor dieser Zeit haben wir zu lange in der alten Sowjetunion gelebt. Das prägt uns. Was die Todesstrafe betrifft: Wir verweigern uns nicht der Idee, sie in der Zukunft abzuschaffen. Und schon heute gilt sie nur für brutale Morde, verbunden mit schwersten Verbrechen. Aber: 1996 haben sich mehr als 82 Prozent der Menschen bei uns in einem Referendum für den Erhalt der Todesstrafe ausgesprochen. Jetzt arbeiten wir daran, diese Meinung zu ändern.
Sie beobachten, was in der EU passiert: das Brexit-Drama, Konflikte etwa über die Flüchtlingspolitik. Sind Sie besorgt oder haben Sie etwas Schadenfreude?
Wir sind sehr besorgt. Wir möchten die EU unbedingt als etwas Einheitliches, etwas Geschlossenes, etwas Starkes haben. Als einen geostrategischen Spieler, der verlässlich ist und weiß, was er will.
Warum besorgt Sie das?
Weil wir dann viel weniger Aufmerksamkeit erhalten. Wir möchten aktiver arbeiten, auch im Rahmen der Initiative Östliche Partnerschaft. Wir haben Vorschläge gemacht, bei der Energie-Diversifizierung, bei der Infrastruktur, bei der Digitalisierung. Aber da steht vieles still, weil die Aufmerksamkeit der EU anderswo ist.
Früher waren EU und USA engste Partner. Im Augenblick ist das nicht mehr ganz so. Ist das gut für Sie, weil Sie mal hierhin und mal dorthin blinken können?
Wir würden es begrüßen, wenn die transatlantische Kooperation problemlos und verlässlich wäre. Das wäre für uns bequemer. Wir leiden unter den Handelskriegen zwischen den USA und China, zwischen den USA und der EU. Wir wollen eine Situation, in der alle nach klaren Regeln spielen. Wir exportieren bis zu 60 Prozent unserer Güter und wollen im Handelsfrieden leben.
China engagiert sich in Weißrussland erheblich. Warum suchen Sie dessen Nähe?
Wir hatten in der Vergangenheit Probleme durch die EU-Sanktionen. Und wir hatten Probleme auch mit unseren russischen Verbündeten. Beim Gas, beim Öl, beim Zucker. Und deshalb hat die Führung von Belarus entschieden, sich einen anderen strategischen Partner zu suchen. Einen, der keine politischen Bedingungen stellt.
Haben Sie keine Angst vor Abhängigkeit?
Diese Sorge ist nicht da. Wir haben keinen Grund und Boden an China verkauft. Das ist bei uns verboten. Genauso haben wir keine Betriebe verkauft. Wir versuchen, die Augenhöhe zu bewahren.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?
Dass Belarus zur Schweiz Osteuropas wird. Das wär's.