Russland:Verfassungsreform verschoben

Wladimir Putin wollte im April die russische Bevölkerung über seine große Reform abstimmen lassen. Es geht dabei auch um seine Amtszeit. Doch das Coronavirus durchkreuzt nun seine Pläne.

Von Silke Bigalke, Moskau

Die Volksbefragung über die neue russische Verfassung ist verschoben, auf unbestimmte Zeit. Präsident Wladimir Putin hat sich am Mittwoch an die Bevölkerung gewandt, zum ersten Mal, seit die Corona-Krise Europa erreicht hat. Seit Tagen war spekuliert worden, wie lange er am 22. April festhalten könnte: An diesem Tag wollte Putin die Wähler über seine Reform abstimmen lassen, seit Wochen macht der Kreml dafür Werbung. "Sie wissen, wie ernst es mir mit dieser Abstimmung ist", sagte Putin bei einer Ansprache im Staatsfernsehen. Wann sie nachgeholt werden kann, werde "auf Grundlage professioneller Meinungen, Empfehlungen von Ärzten und Spezialisten" entschieden.

Das Coronavirus durchkreuzt nun Putins Zeitplan. Die Verfassungsreform erlaubt es ihm unter anderem, nach 2024 für zwei weitere Amtszeiten Präsident zu bleiben. Juristisch hat der Aufschub zwar wohl keine Auswirkungen. Die Reform ist bereits von beiden Parlamentskammern bestätigt, vom Verfassungsgericht gebilligt und vom Präsidenten unterschrieben. Putin will die Wähler dennoch befragen, obwohl ihr Votum rechtlich nicht bindend für ihn ist. Sie sollen seinem Verfassungsstreich zumindest den Anschein geben, dass eine demokratische Mehrheit dahinter steht. Weil die Bevölkerung damit auch über Putins Zukunft abstimmt, braucht der Kreml eine hohe Beteiligung und eine klare Zustimmung.

Er hat einen zweistelligen Millionenbetrag für seine Kampagne mit dem Slogan ausgegeben: "Unser Land, unsere Verfassung, unsere Entscheidung". Jetzt bremst das Virus Putin aus. Gleichzeitig bietet die Krise dem Präsidenten eine Chance, sich als fürsorglicher Landesvater zu zeigen. Als erste Maßnahme verordnete Putin Zwangsurlaub für alle, damit sich das Virus nicht so schnell ausbreitet. "Ich erkläre die nächste Woche arbeitsfrei", sagte er, die Löhne werden dabei weiter gezahlt. Weil Supermärkte, Apotheken und Banken offen bleiben, der öffentliche Verkehr nicht eingeschränkt wird, müssen viele dennoch weiterarbeiten. Eine mögliche Ausgangssperre, über die in Moskau spekuliert wird, erwähnte Putin nicht. Er sprach auch nicht darüber, Abstand zu halten oder die Metro zu meiden. Stattdessen gab er eine eher weiche Empfehlung: "Glauben Sie mir, das Sicherste ist jetzt, zu Hause zu bleiben."

Die russische Regierung hat in den vergangenen beiden Wochen eher zögerlich auf die Verbreitung des Virus reagiert. Die erste weitreichende Maßnahme gilt von diesem Donnerstag an in Moskau: eine Ausgangssperre für alle Menschen, die älter sind als 65 Jahre. Sport- und Kulturveranstaltungen werden abgesagt, Kinos und Nachtklubs bleiben geschlossen, Restaurants und Geschäfte aber nicht.

Die offizielle Zahl der Infizierten liegt bei 658, nach dem bisher größten Anstieg innerhalb eines Tages. Die meisten Fälle, 410, gibt es in Moskau. Am Dienstag zeigte sich Putin in einem Moskauer Infektionskrankenhaus, man konnte zusehen, wie er einen gelben Schutzanzug anzog und eine besonders große Atemschutzmaske. Zuvor hatte es Gerüchte gegeben, Putin hätte die Hauptstadt wegen des Virus verlassen.

Erstmals wird eingeräumt, dass mehr Menschen infiziert sind als die Statistik ausgibt

Dort ändern die Behörden allmählich ihren Ton: Der Moskauer Bürgermeister und Russlands Virus-Krisenmanager Sergej Sobjanin erklärte erstmals öffentlich, dass tatsächlich viel mehr Menschen infiziert seien, als die offizielle Statistik angibt. Im Staatsfernsehen warnte ein Virologe davor, dass Russland bei der Entwicklung der Infektionen etwa drei Wochen hinter Italien sei. Was "heute in vielen westlichen Ländern" passiere, sagte Putin nun, "kann unsere unmittelbare Zukunft werden".

Den größten Teil seiner Ansprache verwendete er darauf, weitreichende soziale Hilfe zu versprechen. Mütter sollen mehr Geld für jedes Kind bekommen, solange die Kindergärten geschlossen sind. Wer krankgeschrieben ist oder seinen Job wegen der Krise verliert, soll wegen des niedrigen Kranken- oder Arbeitslosengeldes nicht unter das Existenzminimum fallen. Wer Schulden hat, soll mehr Zeit bekommen, um seinen Kredit zurückzuzahlen.

Außerdem verhängt Putin "ein Moratorium" für Unternehmenspleiten. Kleinen und mittelgroßen Firmen soll geholfen werden, indem sie etwa ihre Steuern erst später zahlen müssen. Finanzieren will der Präsident all dies mit einer Extra-Steuer auf Kapital, das ins Ausland fließt, und auf besonders hohe Dividenden. "Diese Maßnahmen sind nicht einfach, aber wir müssen das tun", sagte Putin. Der Präsident verspricht den Schwächsten bereits regelmäßig in den Reden an die Nation mehr Hilfe.

Er sicherte nun auch den Veteranen zu, dass sie ihre jährliche Einmalzahlung schon vor Mai erhalten sollen, wenn Russland seinen Sieg im Zweiten Weltkrieg feiert. Der Jahrestag am 9. Mai ist das wichtigste gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Bisher hält der Kreml an seinen Plänen dafür fest.

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