Vor ein paar Monaten schnitt sie sich die langen Haare ab. Alexandra Duchanina begann symbolisch ein neues Leben. Es war die Zeit, als in Russland die umstrittenen Wahlen stattfanden und Zehntausende Menschen protestierten. Freunde von ihr sagen, bis dahin habe sich Duchanina für Politik nicht interessiert.
Jetzt steht ein Foto von ihr in den russischen Zeitungen. Es wurde vor drei Wochen aufgenommen, bei einer Demonstration auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz. Die junge Frau trägt ein schwarzes Kleid, ein Beamter der Sondereinheit Omon hält sie im Schwitzkasten und zerrt sie fort. Duchanina greift mit beiden Händen in seinen Arm, als wolle sie ihren Hals aus der Umklammerung befreien. Aber jetzt hat sie weitaus mehr zu befürchten.
Die Behörden ermitteln gegen Alexandra Duchanina nach Artikel 212 des russischen Strafgesetzbuchs, und nun muss sie mit bis zu zehn Jahren Haft rechnen - wegen Aufrufs zu Massenunruhen und eines Angriffs auf Omon-Beamte. Duchanina hatte am 6. Mai beim "Marsch der Millionen" mitgemacht, mit dem Zehntausende Russen gegen die Amtseinführung des neuen Präsidenten Wladimir Putin am folgenden Tag protestierten.
Im Anschluss kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, Hunderte Menschen wurden festgenommen, es gab Verletzte auf beiden Seiten. Duchanina, die der radikalen Linken zugerechnet wird, soll mit Steinen auf einen der Elitepolizisten geworfen haben. Ihre Anwälte sagen, sie gebe die Teilnahme an der Kundgebung zu, aber sie habe nur friedliche Mittel eingesetzt. Wie auch immer Duchanina sich genau verhalten hat, die Anschuldigung, zu Massenunruhen aufgerufen zu haben, ist die erste dieser Art im Zuge der Protestwelle.
Ein Regierungskritiker lobte die Polizei - und bekam Applaus
Noch im Februar hatte der regierungskritische Journalist Leonid Parfjonow bei einer der großen Kundgebungen in Moskau auf der Bühne gestanden und die Polizei gelobt, die so zurückhaltend daneben stand. Er erhielt sogar Applaus für seine Dankesworte.
Doch nun hat sich die Führung in Moskau für eine härtere Gangart entschieden. Die Wahlen sind vorbei, und damit auch der Zwang zu Kompromissen. Moskau sieht offenbar in den Demonstranten immer weniger einen unzufriedenen Teil der Gesellschaft, sondern einen Gegner, den man bekämpfen will. Putins Sprecher Dmitrij Peskow wurde gar mit dem Satz zitiert, die Polizisten sollten "die Leber der Demonstranten auf den Asphalt schmieren".
Immer wieder wurden in den vergangenen Tagen und Wochen Demonstranten festgenommen, spontane Happenings aufgelöst, und Anführer wie der Blogger und Anwalt Alexej Nawalnyj sowie der Linksaktivist Sergej Udalzow für zwei Wochen verhaftet. Doch selbst diese beiden Protagonisten der Straßenopposition sind bisher nicht des Aufrufs zu Massenunruhen beschuldigt worden, wie die erst 18 Jahre alte Duchanina sowie drei weitere Regierungskritiker, gegen die seit Montag ebenfalls ermittelt wird. Und es könnten noch einige dazukommen. Nach einem Bericht der Zeitung Kommersant werten hundert Ermittler derzeit noch sämtliche Videoaufnahmen der Demonstrationen aus.
Der Dialog zwischen dem Staat und seinen Kritikern wird zunehmend über die Justiz geführt, und schon vom nächsten Dienstag an wird das Problem noch wachsen. Dann befasst sich die Duma in zweiter Lesung mit einem verschärften Demonstrationsrecht. Wer an einer nicht genehmigten Kundgebung teilnimmt, kann nach dem Gesetzentwurf der Regierungspartei Einiges Russland mit bis zu einer Million Rubel (etwa 26.000 Euro) bestraft werden; das ist das Vielfache eines durchschnittlichen russischen Jahresgehalts von 500 Euro.
Die Strafe könnte vor Inkrafttreten des Gesetzes noch gesenkt werden, doch Putin selber hat die Richtung vorgegeben. "Wir müssen unser Volk vor radikalen Aktionen schützen", sagte er. Dies sei das Recht der Gesellschaft und der Regierung.
Was aber ist radikal? Die Frage, ob darunter vor allem das Werfen mit Steinen zu verstehen ist, oder auch bereits das kollektive Tragen von weißen Schleifen als Botschaft der Unzufriedenheit, dürfte viele Russen verunsichern. Als am Sonntag Gegner der Regierung in weißer Kleidung und mit weißen Bändchen in der Innenstadt spazierten und sich einer Oppositionsveranstaltung näherten, reagierte die Polizei mit Festnahmen.
Zulauf für den 12. Juni
Für den 12. Juni, den nationalen Feiertag "Tag Russlands", hat die Opposition eine weitere Großkundgebung für 50 000 Teilnehmer im Zentrum von Moskau beantragt. Sollte die Stadtbehörde die Veranstaltung in die Peripherie verlegen und ein Teil der Demonstranten den genehmigten Pfad verlassen, könnte das neue, strenge Gesetz bereits einen ersten Praxistest durchlaufen.
Dass nun zugleich Alexandra Duchanina von einer schweren Haftstrafe bedroht wird, ist für Ilja Ponomarjow klares Kalkül. "Indem nun heftigere Paragrafen angewandt werden, die praktisch jeden Demonstranten kriminalisieren können, sollen die Menschen von vorneherein von einer Protestkundgebung abgehalten werden", sagte der Abgeordnete der Partei Gerechtes Russland, die wie alle anderen übrigen Duma-Parteien gegen den Gesetzentwurf der Regierung gestimmt haben. "Tatsächlich aber glaube ich, dass auf diese Weise am 12. Juni nur noch mehr Menschen auf die Straße gehen werden."