Russland:Universum der Symbole

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An diesem 9. Mai müssen die Veteranen und auch alle anderen, die den Sieg über die Faschisten feiern wollen, zu Hause bleiben. (Foto: Alexander Zemlianichenko/AP)

Präsident Wladimir Putin verzichtet wegen der Corona-Krise auf die große Feier, aber er arbeitet schon länger daran, sich als den Verteidiger der heiligen Erinnerung an den Krieg zu präsentieren.

Von Silke Bigalke, Moskau

Es gibt einen Ort, an dem das Virus den russischen Plänen für den Siegestag nichts anhaben kann: den Himmel über Moskau. Dort flogen in den vergangenen Tagen Hubschrauber und Jets in Formation, sie übten für Samstag. Die Militärparade ist abgesagt. Doch die Moskauer können von zu Hause aus nach oben schauen, auf die Flieger und das Feuerwerk.

Wladimir Putin wird wohl Blumen am Grab des unbekannten Soldaten ablegen, allerdings allein und ohne internationale Gäste. Die hatten für die Feierlichkeiten zahlreicher zugesagt als in vorherigen Jahren, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Indiens Ministerpräsident Narendra Modi wollten kommen, weitere Staatschefs etwa aus Kuba, Tschechien, Venezuela, Serbien. Der Tag hätte Putin nicht nur geholfen, sich international weiter zu rehabilitieren. Mit ihrem Besuch hätten die internationalen Gäste auch Putins Verfassungsänderung in gewisser Weise sanktioniert, die Möglichkeit einer Machtverlängerung.

Die Bedeutung des Siegestags geht für Putin aber weit darüber hinaus. Das Ende des Krieges wird in keinem Land so groß begangen wie in Russland. Die Erinnerung an den Sieg sei emotional und wichtig für beinahe jede russische Familie, sagt Iwan Kurilla, Geschichtsprofessor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. "Putin nutzt das aus, um sein eigenes Regime zu legitimieren", sagt der Historiker, der sich mit Erinnerungskultur beschäftigt. "Er stellt sich selbst als Verteidiger dieser heiligen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg dar." Dass die Erinnerung an den Krieg nun zum Erinnerungskrieg zwischen Russland und seinen Nachbarn geführt habe, gebe ihm dazu nur noch mehr Gelegenheit. Vor allem Warschau und Moskau haben sich in den vergangenen Monaten gegenseitig vorgeworfen, im zweiten Weltkrieg gemeinsame Sache mit den Nazis gemacht zu haben. Dabei nutzten polnische Nationalisten den Streit um die Geschichte genauso aus wie russische. Dem Kreml geht es laut Kurilla um Symbole, hinter denen er die Mehrheit der russischen Bevölkerung versammeln kann, und weniger um Ideologien. Im Zentrum dieses Symbol-Universums stehe das russische Narrativ vom Zweiten Weltkrieg, der sowjetische Sieg über die Nazis, die Verteidigung des Vaterlands und die Befreiung Europas. Die Besetzung Osteuropas nach dem Krieg kommt darin nicht vor. Jüngstes Beispiel dafür, wie man in Moskau auch ideologische Widersprüche durch starke Bilder verwischt, ist ausgerechnet ein neues Gotteshaus. Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sie gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium gebaut, sie soll zur "Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte" werden und ist buchstäblich auf Symbolen aufgebaut: Der Durchmesser der Hauptkuppel beträgt 19,45 Meter, in Anlehnung an das Jahr des Sieges. Der Glockenturm daneben ist 75 Meter hoch, zu Ehren des Jubiläums. Eine weitere Kuppel ist 14,18 Meter hoch - für 1418 Kriegstage, so viele zählt man in Russland, wo man vom deutschen Überfall an rechnet. Die Außenwände sind in Tarnfarbengrün gehalten.

Im Inneren zeigt eines der Mosaike die Siegesfeier von 1945. Den Roten Platz füllen da sowjetische Soldaten, ein Soldat im Hintergrund hält ein Plakat mit Stalin-Porträt in die Höhe. Es gibt zwar Kirchenvertreter, die das kritisieren. Dem stalinistischen Terror fielen Millionen Menschen zum Opfer, auch Gläubige und Priester. Stalin ließ Kirchen abreißen, doch bisher hält man offenbar an dem Mosaik fest. Ein anderes Bild wird dafür aber wohl nicht zu sehen sein: Es sollte Putin und einige politische Gefolgsleute, darunter Verteidigungsminister Sergej Schoigu, zeigen und offenbar dem "Anschluss" der Krim gewidmet sein.

Als der Präsident von dem Mosaik erfahren habe, sagte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow, habe er gelächelt und gesagt: "Eines Tages werden zukünftige Generationen unsere Errungenschaften würdigen, aber jetzt ist es zu früh dafür." Eigentlich sollte die Kathedrale diese Woche eingeweiht werden, auch das muss nun warten. Die Militärparade möchte Putin noch in diesem Jahr nachholen. Als mögliches Datum gilt der 3. September. Erst vor Kurzem hat das Parlament das Gedenken an das Kriegsende auf diesen Tag verschoben. Zuvor hatte Russland das am 2. September gefeiert. Putin hat zudem versprochen, das "Unsterbliche Regiment" nachzuholen. Die Initiative begann als Graswurzelbewegung vor acht Jahren in Tomsk, inzwischen nehmen mehrere Millionen Menschen in vielen Städten teil. Dabei tragen sie Fotos von Familienangehörigen durch die Straßen, die den Krieg erlebt haben. In den vergangenen Jahren lief Wladimir Putin mit einem Fotos seines Vaters mit, er versucht die Aktion zu kontrollieren. Dabei hatte die gerade als Kritik daran begonnen, dass der Kreml die Erinnerung an den Krieg vereinnahme. Die Teilnehmer wollten zeigen, dass es ihre Großväter waren, die gekämpft hatten. "Es war eine natürliche Reaktion: Stehlt nicht unsere Erinnerung", sagt der Historiker Kurilla. Das unsterbliche Regiment soll nun am Samstag schon mal im Internet stattfinden, als Video-Sequenz aus Fotos, welche die Teilnehmer vorher einschicken müssen.

Die Pandemie hält nicht nur Paraden auf und Staatsgäste fern. Auch der Geschichtsstreit scheint während der Krise Pause zu machen, sagt Kurilla und hofft, dass er nicht nur verschoben ist, sondern verstummt.

© SZ vom 08.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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