Russland und die Sowjet-Zeit:Erinnerung an "Väterchen Stalin"

Die russische Staatsanwaltschaft hat das Archiv der Menschenrechtsorganisation Memorial beschlagnahmt. Ein Beispiel für den Umgang mit der Vergangenheit.

Kata Kottra

Maskierte, bewaffnete Polizisten stürmten vor einigen Tagen in das Sankt Petersburger Büro der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Sie durchsuchten die Räume, verweigerten dem Anwalt der Organisation den Zugang und nahmen alle Festplatten und Dokumente mit. Das Ergebnis von zwanzig Jahren Forschung über die stalinistische Diktatur befindet sich damit in den Händen der Sankt Petersburger Staatsanwaltschaft.

Russland und die Sowjet-Zeit: Viele Russen schwelgen in Nostalgie, wenn sie an Stalin denken - und vergessen die 25 Millionen Menschen, die seiner Herrschaft zum Opfer fielen.

Viele Russen schwelgen in Nostalgie, wenn sie an Stalin denken - und vergessen die 25 Millionen Menschen, die seiner Herrschaft zum Opfer fielen.

(Foto: Foto: Reuters)

"Die Arbeit von Memorial in Sankt Petersburg ist lahmgelegt", sagt Boris Belenkin, Historiker von Memorial. "Die Mitarbeiter des Büros stehen unter Schock."

Seit ihrer Gründung 1988 setzt sich die Organisation für die Rehabilitierung der Opfer Stalins ein. Sie hat Namen und Lebensgeschichten dokumentiert, den Gulag, wie das sowjetische Lagersystem genannt wird, kartographiert und nach unentdeckten Massengräbern gesucht.

Die Durchsuchung der Büroräume stehen nach Aussage der Sankt Petersburger Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die inzwischen eingestellte Zeitschrift Neues Petersburg, in dem im Juni 2007 ein "extremistischer" Artikel erschienen sei. "Die Gesellschaft Memorial weiß nichts über die Zeitungspublikation", ließ Memorial kurz nach der Durchsuchung wissen.

Schließung des Zentrums befürchtet

Die Menschenrechtsorganisation hält die Berufung auf den Artikel als "Vorwand für die Durchsuchung der Räume von Memorial". Irina Fliege, die Leiterin des Petersburger Zentrums, befürchtet sogar, dass ihr Institut geschlossen werden soll. Dass es gegen Memorial selbst gar kein Ermittlungsverfahren gebe, ließ jetzt die Staatsanwaltschaft mitteilen.

In Deutschland regt sich gegen das brachiale Vorgehen der Sankt Petersburger Staatsanwaltschaft Protest: "Wir verurteilen die Durchsuchung des Petersburger Memorial-Büros durch maskierte Vertreter der Behörden scharf ", heißt es in einer Erklärung der Grünen-Abgeordneten Marieluise Beck und Manuel Sarrazin. Der Durchsuchungsbefehl beruhe auf einem konstruierten Vorwand, das Vorgehen bei der Durchsuchung diene "allein der Schikane der bekannten Menschenrechtsorganisation".

Gegründet wurde Memorial ein Jahr vor dem Fall des Eisernen Vorhanges von dem Regimekritiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Bis heute ist sie eine der wenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland, die sich für die Aufklärung der Verbrechen unter Stalin einsetzt. Dessen Gewaltherrschaft kostete zwischen 1928 und 1953 nach Schätzung des britischen Historikers Orlando Figes 25 Millionen Menschen das Leben.

Die offizielle Erinnerung an die Sowjetzeit ist im heutigen Russland zunehmend von Verdrängung und Verherrlichung bestimmt. So strahlte das staatliche Fernsehen im vergangenen Jahr die 40-teilige Geschichts-Soap "Stalin.live" aus, die den Diktator als gläubiges Väterchen zeigte. Historiker sprachen von massiver Geschichtsverfälschung. Sie kritisieren auch ein kürzlich erschienenes Schulbuch, in dem die Autoren Stalin als "fähigen Manager" beschreiben und in eine Reihe mit Wladimir Putin stellen.

Stalin ist am beliebtesten

Da ist es wenig überraschend, dass auch manche Teile der Bevölkerung ob der angeblich ruhmreichen Zeiten unter Stalin in Nostalgie schwelgen: Bei einer Umfrage des staatlichen Fernsehens, die die beliebteste historische Persönlichkeit Russlands ermitteln sollte, lag Stalin lange auf dem ersten Platz. Was wohl selbst dem Sender nicht ganz geheuer war: Er ließ die Zähler wieder auf null setzen, so dass im nächsten Anlauf Alexander Newski, der Nationalheld aus dem 13. Jahrhundert, zu Ehren kam.

Mit Fakten, Dokumenten und Opferaussagen versucht Memorial gegen diese Nostalgie und Verharmlosung der Stalin-Zeit zu kämpfen. Zum Beispiel wäre das monumentale Geschichtswerk "Die Flüsterer" von Orlando Figes, der das Schicksal von Familien während des Stalin-Terrors der dreißiger Jahre dokumentiert, ohne Memorial nicht möglich gewesen.

Ob sich die Organisation in Zukunft ungestört ihren Forschungen widmen kann, ist ungewiss. "Wir wissen nicht, woher die Initiative für die Durchsuchung kam, aus Moskau oder von der Petersburger Staatsanwaltschaft", sagt Memorial-Mitarbeiter Belenkin. Er fürchtet auch um die Memorial-Forschungszentren in anderen russischen Städten. Immerhin: Die Website über das virtuelle Gulag-Museum von Memorial ist auch während der Zwangspause in Sankt Petersburg von der ganzen Welt aus abrufbar.

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