Süddeutsche Zeitung

Konflikt in der Ukraine:Russland testet die Grenzen aus

Ein neues Militärlager, vier Kilometer lang: Mit einem massiven Truppenaufmarsch nahe der Ukraine löst Moskau Sorge vor einer Eskalation aus. Merkel telefoniert mit Putin - und Experten vermuten eine Botschaft an den neuen US-Präsidenten.

Von Florian Hassel, Belgrad

Die letzten ukrainischen Soldaten starben kurz vor dem Besuch des Präsidenten. Der 23 Jahre alte Maxim Stebljanko verlor sein Leben am Dienstag, als der von ihm gesteuerte Lastwagen an der Front bei Stepne südwestlich von Donezk auf eine Mine fuhr. Am gleichen Tag starb auch Oberleutnant Wolodimir Schpak beim Dorf Newelske durch Granatbeschuss prorussischer Einheiten.

Und wenige Stunden, bevor am Donnerstag Präsident Wolodimir Selenskij zum Frontbesuch in die Ostukraine flog, starb der nächste Soldat, so die ukrainische Armee. Selenskij selbst stieg am Donnerstag mit Helm und schusssicherer Weste an der Front in ukrainische Schützengräben und zeichnete verdiente Soldaten mit Orden aus. Abseits hoher Besuche und abseits der Schlagzeilen ist das Sterben aber seit Jahren Alltag an der gut 400 Kilometer langen Front.

Mehr noch als der Stellungskrieg beunruhigt Militärführer in Kiew und im Westen der russische Aufmarsch auf der von Moskau besetzten Krim und entlang der Grenze zur Ukraine. Dort zog Moskau dem ukrainischen Kommandeur Ruslan Chomtschak zufolge schon bis Ende März 28 taktische Bataillonsgruppen (20-25 000 Soldaten) zusammen. Fast ebenso viele russische Soldaten würden noch verlegt, schätzte Chomtschak am 31. März im Parlament.

Lokale Einwohner lieferten unterdessen dem russischen Conflict Intelligence Team (CIT) Berichte und Aufnahmen eines neuen russischen Truppenlagers in der Nähe von Woronesch, eine Tagesfahrt von der ukrainischen Grenze entfernt. Dem CIT zufolge ist allein dieses Lager bis zu vier Kilometer lang und mit Hunderten Armeefahrzeugen gefüllt.

Putin behauptet, Kiew wolle die Lage an der Front absichtlich zuspitzen

Mithilfe von Eisenbahndatenbanken stellten die CIT-Analysten fest, dass in diesen Tagen aus ganz Russland Einheiten auf die Krim und an die Grenze zur Ukraine verlegt werden. "Eine solche Konzentration von Kräften an der Grenze zur Ukraine ist seit 2014/15 ohne Beispiel", stellten die CIT-Spezialisten fest.

Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Russlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag in einem Telefonat auf, die russische Militärpräsenz im Umfeld der Ostukraine abzubauen. Putin dagegen wiederholte die Kreml-Darstellung, der zufolge Kiew "mit provozierenden Handlungen" versuche, die Lage an der Front in der Ostukraine "absichtlich zuzuspitzen". Belege für diese Behauptung fehlen. Auch Behauptungen Moskaus, die Truppenverlagerungen ständen im Zusammenhang mit Manövern und Übungen, überzeugen Analysten nicht. Schließlich seien die russischen Bewegungen teils schon seit Februar in Gang, stellt etwa das CIT fest.

Doch die CIT-Analysten werten den Aufmarsch auch nicht als Vorbereitung zu einem neuen Krieg, sondern als Drohgebärden gegenüber der Ukraine und als Test des neuen US-Präsidenten Joe Biden. "Das Ziel der Verlagerungen ist, die ukrainische Führung einzuschüchtern (...) und die neue US-Administration (...) zu prüfen". Allerdings sei der russische Aufmarsch nicht beendet. "Wir finden praktisch jeden Tag Informationen über neue Einheiten und Aufmarschorte."

Auch in der Ukraine sehen Offizielle die Lage bisher gelassen. Kommandeur Chomtschak sagte im ukrainischen Fernsehen am 31. März, der Generalstab glaube nicht an einen bevorstehenden Krieg. An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert. Sergej Rachmanin, Mitglied des Verteidigungsausschusses im ukrainischen Parlament, sagte im Radio Nowoje Wremja, bisher gebe es "minimalen Anlass" anzunehmen, dass Russland die Ukraine in nächster Zeit angreife. Und Alexej Arestowitsch vom Präsidialapparat Selenskijs ergänzte: "Ich glaube nicht, dass sie (die Russen) nach den vielen Warnungen der Nato und der USA einen Konflikt von großem Ausmaß beginnen."

Moskau hat im Donbass Hunderttausende russische Pässe ausgegeben

Stuart Peach, Vorsitzender des Militärkomitees der Nato, sprach in Kiew am Dienstag und Mittwoch mit Präsident Selenskij und Streitkräfte-Kommandeur Chomtschak. "Wir rufen Russland auf, seine Unterstützung für die Militanten in der Ostukraine zu beenden und seine Kräfte von ukrainischem Territorium zurückzuziehen", erklärte der Nato-Offizier. Chomtschak schätzt die Zahl der Soldaten im von Moskau kontrollierten Donbass auf 28 000, dazu kämen noch mehr als 2000 russische Offiziere und Militärberater. Auf der Krim habe Moskau mittlerweile 33 000 Soldaten stationiert.

Im Telefonat mit Merkel wiederholte Putin die Forderung, Kiew müsse direkt mit den Führern der "Volksrepubliken" in Donezk und Lugansk verhandeln - Kiew lehnt dies ab. Und auch ohne einen offenen Einmarsch weiterer russischer Streitkräfte als "Friedenstruppen" geht Moskaus illegale, schleichende Annexion von "DNR" und "LNR" weiter. Schon seit April 2019 lässt Putin rechtswidrig russische Pässe an die Bewohner des Donbass ausgeben - der Östlichen Menschenrechtsgruppe zufolge waren es schon bis Januar gut 442 000 russische Pässe.

"DNR"-Führer Denis Puschilin sagte am Mittwoch, im Hinblick auf die aktuell "beschleunigte Ausgabe von Pässen" würden bis September "500-600 000" Einwohner von "DNR" und "LNR" russische Pässe in den Händen halten. Das Moskauer Carnegie-Zentrum berichtete, 2025 sollten ukrainische Pässe im besetzten Donbass nicht mehr anerkannt werden. Ukrainischen Offiziellen zufolge plant die "DNR", ihren Bürgern den Übergang auf von Kiew kontrolliertes Gebiet jenseits der Front nur noch nach Ausgabe von Passierscheinen nach einer aufwendigen Prozedur zu erlauben.

Schon am 1. Februar ordnete Puschilin per Erlass die Verstaatlichung "herrenloser Immobilien" an - im Klartext: die Enteignung des Eigentums von Ukrainern, die aus Donezk oder Lugansk auf von Kiew kontrolliertes Gebiet geflüchtet sind. Zumindest auf dem Papier ist seit dem Sommer 2020 Russisch die einzige zugelassene Sprache in "DNR" und "LNR", Ukrainisch ist offiziell nicht mehr gestattet. Die Universität von Donezk und mehrere Schulen nehmen in diesem Jahr erstmals russische Examina ab - bis 2023 sollen alle Schulen im besetzen Donbass auf russische Prüfungen umstellen, sagte die "DNR"-Funktionärin Ljubow Wolkowa am 19. März.

Am 28. Januar veranstalten die "DNR"-Oberen in Donezk die Konferenz "Russischer Donbass" und präsentierten eine Doktrin des Anschlusses an Russland. Konferenz-Stargast Margarita Simonjan, Chefin des Kreml-Propagandafernsehens RT, sekundierte: "Die Menschen des Donbass wollen bei sich zu Hause leben und Teil unserer großen, großartigen Heimat sein. Und wir haben die Pflicht, für sie dafür zu sorgen. Russland, Mütterchen, hol den Donbass nach Hause!" Simonjans Auftritt dürfte kaum ohne Zustimmung aus dem Kreml zustande gekommen sein. Offiziell beteuerte Kremlsprecher Dmitrij Peskow freilich, die Annexion des Donbass stehe "nicht auf der Tagesordnung".

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