Süddeutsche Zeitung

Russland:Was hinter den Moskauer Muskelspielen steckt

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Zehntausende Soldaten sind an der ukrainischen Grenze und lösen Sorge vor einer militärischen Eskalation aus. Trotzdem spricht viel dafür, dass es keinen Krieg gibt.

Von Silke Bigalke, Moskau

Vor sieben Jahren hat der Kreml alle überrumpelt. An einem Mittwoch im Februar begann er, Truppen und Kriegsgerät an die ukrainische Grenze zu verlegen. Für eine Schnellinspektion, erklärte damals das Verteidigungsministerium, und nur zur Übung. Nur einen Tag später, am 27. Februar 2014, stürmten bewaffnete Männer das Parlament auf der ukrainischen Halbinsel Krim und hissten die russische Fahne. Schon damals vermutete man russische Einsatzkräfte hinter dem Überfall.

Drei Wochen später unterzeichnete Präsident Wladimir Putin den Vertrag über die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation. Gleichzeitig schwoll der Konflikt in der Ostukraine zum Krieg an. Dort unterstützte Moskau die prorussischen Separatisten verdeckt. Die Kämpfe dauern bis heute an und haben nach Angaben der Vereinten Nationen bereits mehr als 13 000 Menschen das Leben gekostet.

Kein Wunder also, wenn viele nun erschrocken nach Woronesch in Westrussland blicken, etwa 170 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort und auf der annektierten Krim haben sich so viele russische Soldaten mit militärischem Gerät zusammengezogen wie seit 2014 nicht mehr. Sogar die Zahlen scheinen denen von damals zu ähneln, als die Nato von etwa 40 000 Mann ausging. Nun schätzt die ukrainische Regierung, dass das russische Militär etwa 50 000 zusätzliche Soldaten auf die Halbinsel und in Grenznähe verlegt hat. Darunter sind auch Einheiten, die bereits im Donbass in der Ostukraine gekämpft haben.

Hinzu kommt die Moskauer Propaganda, die sich ebenfalls wiederholt. Bereits vor sieben Jahren wurden russische Bürger in der Ostukraine als vom Westen bedrängt dargestellt, Russlands Schutz für sie sollte aussehen wie ein humanitärer Einsatz. Inzwischen hat Moskau mehrere Hunderttausend russische Pässe in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk verteilt. Die abtrünnigen Gebiete stehen praktisch unter russischer Kontrolle.

Prowestliche Kräfte werden als faschistisch dargestellt

Man könne sich gezwungen sehen, warnte kürzlich Putins Ukraine-Beauftragter Dmitrij Kosak, die russischen Bürger im Donbass zu schützen. Mit derselben Begründung hat Russland auch 2008 in Georgien interveniert und 2014 auf der Krim.

In den vergangenen Wochen berichtete das russische Staatsfernsehen verstärkt von ukrainischen Kriegsgräueln im Donbass. Prowestliche Kräfte in der Ukraine - einschließlich der Regierung in Kiew - werden heute wie damals als faschistisch dargestellt. 2014 sprach Außenminister Sergej Lawrow von "Nazis", die ihre "Märsche durch Kiew und andere ukrainische Städte fortsetzen".

Heute wettert der Kremlpropagandist Dmitrij Kisseljow, man müsse die Ukraine "entnazifizieren" und dass ein "Nazi-Kern" das Land in den Krieg im Donbass getrieben habe. Die Krim sei diesem Krieg nur durch die Wiedervereinigung mit Russland entkommen. Der Politologe Timofej Sergejzew behauptete in einem Kommentar für Ria Nowosti, Nationalsozialisten kämpften im Donbass und töteten wahllos Zivilisten. Bereitet Moskau sich auf einen offenen Angriff in der Ostukraine vor?

Das gilt als unwahrscheinlich, denn trotz dieser scheinbaren Parallelen ist vieles anders als vor sieben Jahren. Etwa, dass die russischen Soldaten heute wohl niemanden mehr überrumpeln würden. Die verlegten Truppen haben sich nicht darum bemüht, schnell und unauffällig zu agieren. Stattdessen haben sie sich filmen lassen, in sozialen Medien sind Videos von den Zügen zu sehen, die Haubitzen und Panzer Richtung Woronesch und auf die Krim bringen.

Die russische Recherchegruppe "Conflict Intelligence Team" listet die Panzereinheiten, Geschütze, Fallschirmjäger und Luftlandetruppen auf, die es identifizieren konnte. In Woronesch wurden Feldkrankenhäuser gesichtet, Signaleinheiten, Luftabwehr. Die meisten Experten gehen daher eher von einer Machtdemonstration aus als von einer ernsthaften Angriffsabsicht.

Die meisten Russen wollen die Ukraine als befreundeten Nachbarn

Eine Offensive wäre zudem schwieriger und vermutlich verlustreicher als damals. Die ukrainische Armee ist heute in einem besseren Zustand als vor sieben Jahren, die politische Lage im Land stabiler. Doch nur einen schnellen, günstigen Sieg könnte Putin der russischen Bevölkerung als Erfolg verkaufen. Nach der Annexion der Krim schossen seine Umfragewerte zwar auf mehr als 80 Prozent Zustimmung. Und bis heute bewerten etwa drei von vier Russen die Annexion positiv. Doch die Krim galt schon immer als eine Ausnahme, eine Einmischung in der Ostukraine hingegen als etwas ganz anderes.

Bereits im Sommer 2015 stellte das Meinungsforschungsinstitut Lewada russischen Bürgern folgende Frage: "Wenn Sie jetzt erfahren würden, dass russisches Militär in der Ukraine kämpft, wie würden Sie das finden?" 40 Prozent antworteten, sie würden das für schlecht halten, nur 33 Prozent hießen eine russische Einmischung gut. Damals kämpften russische Soldaten angeblich nur in ihrem Urlaub und freiwillig im Donbass. Die Mehrheit der Russen, im vergangenen Februar waren es laut einer Umfrage 55 Prozent, sind der Ukraine gegenüber positiv eingestellt. Ein noch größerer Anteil will, dass beide Länder als unabhängige, befreundete Nachbarn existieren.

Auch außenpolitisch dürfte Putin durch einen Angriff mehr verlieren als gewinnen. 2014 war sein Ziel, das Streben der Ukraine in die Europäische Union und die Nato zu stören. Das ist längst gelungen, der Krieg im Donbass macht eine Nato-Mitgliedschaft unmöglich. Selbst ein abgekühlter Konflikt in den Volksrepubliken würde ausreichen, um den Beitritt noch lange Zeit zu verhindern. Bisher pocht der Kreml darauf, dass Russland nicht beteiligt sei am Krieg in der Ostukraine. Solange er seine Ziele auch ohne offenen Angriff erreicht, wird er diesen Anschein kaum aufgeben wollen. Zumal Putin sonst weitere Sanktionen und das endgültige Aus für das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 riskieren würde.

Mit dem Truppenaufmarsch sendet er ein Signal nach Kiew: Die Ukraine kann den Konflikt nicht militärisch lösen, sondern nur, indem es Russlands Forderungen erfüllt, etwa nach einem schnellen Sonderstatus für den Donbass. Putins Bedingungen sind für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij jedoch unannehmbar, auch weil sie Moskaus Kontrolle dort festschreiben würden. Selenskij hat die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen - einen entschiedeneren Kurs gegen prorussische Kräfte in der Ukraine. Selenskij entzog den Fernsehsendern des Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk ihre Lizenz, ließ Oligarchen juristisch verfolgen, drängt nun entschiedener Richtung Nato-Beitritt.

Der Kreml testet, und Biden reagiert

Der Kreml möchte mit dem Truppenaufmarsch andeuten, was passieren kann, wenn man ihn provoziert. Das Signal richtet sich auch an die Verhandlungspartner in Deutschland und Frankreich: Sie sollen auf Selenskij einwirken. Andernfalls, hat Außenminister Lawrow offen gesagt, "werden wir unsere Handlungen anders aufbauen". Am Freitagabend erklärte sich Selenskij zu Friedensgesprächen mit Putin über die jüngsten Spannungen bereit. Er halte Vier-Parteien-Gespräche dazu für realistisch, sagte er nach einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris. Auch ein getrenntes Gespräch zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden könne helfen.

Biden schlug Putin bereits ein Treffen vor - ein erstes Zeichen dafür, dass Drohungen wohl reichen werden. Denn der Kreml wollte sicher auch testen, wie Washington auf die Truppenverlegung reagiert. Oder wie der Politologe Wladimir Pastuchow dem Radiosender Echo Moskwy sagte: Der Kreml glaube, dass er bestimmte Aufgaben gut mit militärischer Gewalt lösen kann. Aber: "Wenn diese Aufgaben ohne Kriegsausbruch gelöst werden, wird es keinen Krieg geben."

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