Krieg in der Ukraine:Worum es beim Konflikt um den Getreide-Deal geht

Krieg in der Ukraine: Das mit Getreide beladene Frachtschiff "Lady Zehma" ankert im September im Marmarameer. Russland hat nach den Drohnenangriffen auf der Krim das Abkommen zum Transport von ukrainischem Getreide aus den Häfen im Schwarzen Meer aufgekündigt.

Das mit Getreide beladene Frachtschiff "Lady Zehma" ankert im September im Marmarameer. Russland hat nach den Drohnenangriffen auf der Krim das Abkommen zum Transport von ukrainischem Getreide aus den Häfen im Schwarzen Meer aufgekündigt.

(Foto: Khalil Hamra/dpa)

Wieso gab es das Abkommen über den Export von Getreide? Aus welchen Gründen hat Russland es nun aufgekündigt? Und wie geht es jetzt weiter? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Jana Anzlinger

Russland will die sichere Passage der ukrainischen Getreidetransporte durch das Schwarze Meer ab sofort nicht mehr gewährleisten und blockiert so erneut den Schiffsverkehr. Es ist die Aufkündigung eines Abkommens, das im Sommer eine monatelange kriegsbedingte Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren beendet hatte.

Warum gibt es das Abkommen?

Russland und die Ukraine sind beide große Getreideexporteure. Sie versorgen - oder versorgten - einen großen Teil der Welt mit dem Rohstoff und verdienen Milliarden mit den Ausfuhren. Vor Kriegsbeginn exportierte die Ukraine pro Jahr 45 Millionen Tonnen Getreide. Das änderte sich am 24. Februar: Seit dem Beginn des russischen Angriffs waren Agrarexporte über die ukrainischen Schwarzmeerhäfen blockiert. Die Getreidepreise explodierten. Die Vereinten Nationen warnten vor Hungersnöten vor allem in armen Ländern Afrikas, des Nahen Osten oder Asiens.

Nach der monatelangen Blockade der Häfen gelang es der Türkei und den Vereinten Nationen (UN) zu vermitteln. Am 22. Juli unterzeichneten die Kriegsgegner unter UN-Vermittlung jeweils getrennt mit der Türkei ein Abkommen, das von drei Häfen Getreideausfuhren aus der Ukraine ermöglichte.

Was genau steht drin?

Russen, Ukrainer und Türken haben sich auf einen sogenannten Getreidekorridor verständigt. Schiffe dürfen demnach leer in ukrainische Häfen fahren, werden aber zuvor bei Istanbul kontrolliert. Das zuständige Koordinierungszentrum in Istanbul ist mit Vertretern der vier Parteien besetzt. Die Inspektionen sollten vor allem sicherstellen, dass Schiffe keine Waffen geladen haben. Die leer in die Ukraine gelangten Schiffe werden in Odessa oder den ukrainischen Nachbarhäfen Tschornomorsk und Juschne mit Weizen, Mais, Sojabohnen oder Sonnenblumenöl beladen. Bei ihrer Rückkehr müssen sie erneut in Istanbul stoppen und sich einer Inspektion unterziehen.

Im Gegenzug für seine Zustimmung sollte dem mit internationalen Sanktionen belegten Russland ebenfalls die Ausfuhr etwa von Landwirtschaftschemie erlaubt werden.

Der Deal war bis zum 18. November befristet, hätte aber - wenn keine Seite widersprochen hätte - nach UN-Angaben automatisch verlängert werden können.

Wurde das Abkommen umgesetzt?

Ja. Am 1. August konnten die ersten Getreideschiffe aus ukrainischen Schwarzmeerhäfen auslaufen. Seitdem sind nach ukrainischen Angaben 331 Schiffe mit 7,4 Millionen Tonnen Getreide in alle Welt aufgebrochen. Die Vereinten Nationen charterten selbst mehrere Schiffe und ließen Getreide in von Hungersnot bedrohte Länder wie Äthiopien, Somalia, Jemen oder Afghanistan bringen.

Der Ukraine, die finanziell nur dank westlicher Kredite und Zuschüsse überlebt, brachten die Getreideexporte 2022 immerhin mehr als fünf Milliarden Dollar ein. Auch die laufende Ernte verlief besser als noch im Sommer befürchtet: Nach 32,2 Millionen Tonnen Weizen im Rekordjahr 2021 ernteten die ukrainischen Bauern auf von Kiew kontrollierten Feldern trotz des Krieges immerhin noch 19,2 Millionen Tonnen, so das Agrarministerium. Damit bestand die Hoffnung, dass sich die weltweite Getreideversorgung entspannt. Mit der Aufkündigung des Abkommens durch Russland hat sich diese Hoffnung zunächst zerschlagen.

Wieso setzt Russland die Vereinbarung nun aus?

Russland hat das Abkommen immer wieder kritisiert, weil es sich durch die Sanktionen des Westens im Zuge seines Krieges gegen die Ukraine bei den eigenen Getreideexporten ausgebremst sieht. Immer wieder drohte Moskau damit, die Vereinbarung im Fall von Terror- oder Sabotageakten platzen zu lassen. Zuletzt hatten sich UN-Beamte in Moskau um eine Fortsetzung um ein weiteres Jahr bemüht, doch es wuchs die Befürchtung, dass eine Verlängerung scheitern würde.

Am Samstag hat Russland die Vereinten Nationen offiziell über die Aussetzung des Abkommens informiert und dies mit Drohnenangriffen gegen die Infrastruktur der Schwarzmeerflotte begründet, für die es die Ukraine verantwortlich machte. Moskau sprach von einem Terrorakt. Bei den Angriffen in der Stadt Sewastopol auf der 2014 von Moskau annektierten Halbinsel Krim wurde nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums am Samstagmorgen auch ein Minenräumschiff der Schwarzmeerflotte leicht beschädigt. Das russische Außenministerium stellte die Behauptung auf, die ukrainischen Streitkräfte hätten unter Missbrauch des humanitären Korridors für die Getreideausfuhren per Schiff Angriffe aus der Luft und vom Meer aus gegen die russische Schwarzmeerflotte verübt. Im Zusammenhang mit diesen Attacken könne die russische Seite die Sicherheit der zivilen Getreideschiffe nicht mehr gewährleisten, teilte das Ministerium mit.

In dem russischen Schreiben an UN-Generalsekretär António Guterres heißt es dpa zufolge, Russland könne wegen der Drohnenangriffe "die Sicherheit von zivilen Schiffen, die im Rahmen der oben genannten Initiative reisen, nicht garantieren". In dem Schreiben des russischen UN-Botschafters Wassili Nebensja heißt es weiter, Moskau setze das Abkommen aus dem Juli "auf unbestimmte Zeit" aus.

Wie geht es jetzt weiter?

Putin plane nicht, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan über die Aussetzung der Vereinbarung zu sprechen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Russland soll in der Angelegenheit eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates für Montag beantragt haben, wie aus Kreisen des mächtigsten Gremiums der Vereinten Nationen verlautete.

Die Vereinten Nationen haben die Hoffnung auf ein Fortbestehen des Deals noch nicht aufgegeben. "Wir stehen mit den russischen Behörden in dieser Sache in Kontakt", sagte ein UN-Sprecher in New York am Samstag. "Es ist unerlässlich, dass alle Seiten jegliche Handlungen unterlassen, die das Getreideabkommen gefährden, das eine entscheidende humanitäre Anstrengung ist, die eindeutig einen positiven Einfluss auf den Zugang zu Lebensmitteln für Millionen von Menschen weltweit hat."

Wie reagiert die Ukraine?

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij fordert eine scharfe Reaktion der Vereinten Nationen und der G-20-Staaten auf die von Russland erklärte Aussetzung des Getreideabkommens. "Russland gehört nicht in die G 20", sagte Selenskij in einer Videobotschaft. Der nächste G-20-Gipfel findet Mitte November auf der Insel Bali in Indonesien statt. Ob der russische Präsident Wladimir Putin daran teilnimmt, ist nach Kremlangaben noch nicht entschieden.

Russland verursache mit diesem Schritt Hungersnöte in Afrika, dem Nahen Osten und Südasien, sagte Selenskij in seiner abendlichen Videoansprache. "Algerien, Ägypten, Jemen, Bangladesch, Vietnam - diese und andere Länder könnten unter einer weiteren Verschärfung der Nahrungsmittelkrise leiden, die Russland bewusst provoziert", so der ukrainische Präsident. "Warum kann eine Handvoll Personen irgendwo im Kreml entscheiden, ob es Essen auf den Tischen der Menschen in Ägypten oder in Bangladesch geben wird?"

Außenminister Dmitro Kuleba schrieb am Samstagabend auf Twitter: "Ich rufe alle Staaten auf, zu fordern, dass Russland seine Hunger Games stoppt und sich wieder an seine Verpflichtungen hält." Moskau blockiere unter einem Vorwand die Transporte, "die Lebensmittelsicherheit für Millionen Menschen bedeuten".

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb bei Twitter, dass alle Verhandlungen mit Russland Zeitverschwendung seien. Neben der Getreideblockade gebe es atomare Erpressung und Energieterror. Kremlchef Wladimir Putin nutze in seinem hybriden Krieg auch Nahrungsmittel als eine Waffe gegen die Welt.

Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters.

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